Schäden, die durch Fahrzeuge verursacht werden, die auch als Arbeitsmaschinen verwendet werden können, müssen nur dann von einer Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung abgedeckt sein, wenn diese Fahrzeuge in erster Linie als Transportmittel verwendet werden. Der Umstand, dass das Fahrzeug zum Zeitpunkt des Unfalls steht oder sein Motor läuft oder nicht, schließt es für sich allein nicht aus, dass die Benutzung dieses Fahrzeugs zu diesem Zeitpunkt von seiner Funktion als Transportmittel umfasst sein kann.
Im März 2006 verstarb Frau Alves infolge eines Unfalls in dem landwirtschaftlichen Betrieb, in dem sie beschäftigt war. Sie wurde von einem Traktor, der auf einem Feldweg des Betriebs mit laufendem Motor stand, um eine Pumpe zum Verspritzen eines Pflanzenschutzmittels zu betreiben, erdrückt, als er von einem Erdrutsch mitgerissen wurde, der u. a. durch sein Gewicht, die Erschütterungen seines Motors und der Pumpe sowie starken Regen verursacht wurde. Der Witwer von Frau Alves erhob Klage und begehrte, entweder die Eigentümer des Betriebs und die Eigentümer des Traktors als Gesamtschuldner oder aber CA Seguros (die Versicherungsgesellschaft, bei der die Eigentümerin des Traktors einen Vertrag zur Versicherung der Haftpflicht im Zusammenhang mit dem Verkehr dieses Fahrzeugs abgeschlossen hatte) - sofern diese Gesellschaft zur Deckung eines solchen Schadensfall verpflichtet sei -, zum Ersatz des immateriellen Schadens aus dem Unfall zu verurteilen.
Die Erste Richtlinie über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung1 sieht vor, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung zu decken ist.
Das Tribunal da Relação de Guimarães (Berufungsgericht Guimarães, Portugal) führt aus, dass der Gerichtshof in einer Rechtssache, die ein Rückwärtsfahrmanöver eines landwirtschaftlichen Traktors betroffen habe2, entschieden habe, dass der Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs" jede Benutzung eines Fahrzeugs umfasse, die dessen gewöhnlicher Funktion entspreche. Das portugiesische Gericht ist der Ansicht, dass nach den Umständen jener Rechtssache davon ausgegangen werden könne, dass die gewöhnliche Funktion eines Fahrzeugs darin bestehe, in Bewegung zu sein. Der Gerichtshof habe sich jedoch nicht zu der Frage geäußert, ob der Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs" auch die Benutzung des Fahrzeugs als Maschine zur Erzeugung von Antriebskraft, aber ohne Bewegung des Fahrzeugs, umfasse. Das Tribunal da Relação de Guimarães fragt sich daher, ob es angesichts des Ziels des Schutzes der Geschädigten, das die Unionsregelung über die Pflichtversicherung verfolgt, wie auch der Notwendigkeit, eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen, gerechtfertigt ist, vom Anwendungsbereich des Begriffs „Benutzung eines Fahrzeugs" die Situation auszuschließen, in der ein im Stillstand befindliches Fahrzeug in seiner gewöhnlichen Funktion als Maschine zur Erzeugung von Antriebskraft, die zur Durchführung einer anderen Arbeit bestimmt ist, benutzt wird, obwohl eine solche Benutzung zu schweren, selbst tödlichen Unfällen führen kann.3
Mit seinem Urteil vom 28.11.2017 hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass eine Situation, in der ein landwirtschaftlicher Traktor an einem Unfall beteiligt ist, seine Hauptfunktion zum Zeitpunkt des Unfalls jedoch nicht darin bestand, als Transportmittel zu dienen, sondern vielmehr darin, als Arbeitsmaschine die für den Betrieb einer Pumpe einer Spritzvorrichtung für Pflanzenschutzmittel erforderliche Antriebskraft zu erzeugen, nicht von dem Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs" im Sinne der Richtlinie umfasst ist.
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass die vorgelegte Frage auf der Prämisse beruht, dass der von der Eigentümerin des Traktors abgeschlossene Versicherungsvertrag allein die Haftpflicht im Zusammenhang mit der Benutzung dieses Traktors im Verkehr abdecken soll. Daher prüft der Gerichtshof, ob die Situation, die zum Tod von Frau Alves geführt hat, als Unfall im Zusammenhang mit der Benutzung des Traktors im Sinne der Richtlinie einzustufen ist oder nicht.
Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs" nicht dem Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten überlassen werden darf, sondern einen autonomen Begriff des Unionsrechts darstellt, der einheitlich auszulegen ist.
Der Gerichtshof hebt hervor, dass der Umfang des Begriffs „Benutzung eines Fahrzeugs" nicht von den Merkmalen des Geländes abhängig ist, auf dem das Kraftfahrzeug benutzt wird. Vielmehr fällt jede Verwendung eines Fahrzeugs als Transportmittel unter diesen Begriff. Der Umstand, dass das an dem Unfall beteiligte Fahrzeug zum Zeitpunkt des Unfalls stand, schließt für sich allein nicht aus, dass die Benutzung dieses Fahrzeugs zu diesem Zeitpunkt unter seine Funktion als Transportmittel subsumiert werden kann und folglich vom Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs" im Sinne der Richtlinie umfasst ist. Auch ob sein Motor zum Zeitpunkt des Unfalls lief oder nicht, ist hierfür nicht maßgeblich. Bei Fahrzeugen, die außer ihrer gewöhnlichen Verwendung als Transportmittel unter bestimmten Umständen auch als Arbeitsmaschinen verwendet werden, gilt Folgendes: Wurde ein solches Fahrzeug zum Zeitpunkt des Unfalls, an dem es beteiligt war, in erster Linie als Transportmittel verwendet, ist diese Verwendung vom Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs" im Sinne der Richtlinie umfasst. Wurde es hingegen als Arbeitsmaschine verwendet, wäre die betreffende Verwendung nicht von diesem Begriff umfasst. Der Gerichtshof schließt daraus, dass unter den konkreten Umständen des vorliegenden Falls die Verwendung des Traktors offenbar in erster Linie an seine Funktion als Arbeitsmaschine anknüpft (nämlich als Generator für die Antriebskraft, die erforderlich war, um die Pumpe der Spritzvorrichtung für das Pflanzenschutzmittel zu betreiben, mit der der Traktor versehen war, um das Pflanzenschutzmittel in dem Weinberg des landwirtschaftlichen Betriebs auszubringen), und nicht an seine Funktion als Transportmittel. Folglich fällt diese Verwendung nicht unter den Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs" im Sinne der Richtlinie.
Fußnoten
1Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 1972, L 103, S. 1, Erste Richtlinie). Die Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 2009, L 263, S. 11) hat die Erste Richtlinie aufgehoben. Angesichts des für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitpunkts unterliegt dieses gleichwohl der Ersten Richtlinie.
2Urteil vom 4. September 2014, Vnuk (C-162/13; vgl. PM Nr. 117/14). In einer anderen anhängigen Rechtssache wird der Gerichtshof um weitere Klärung des Begriffs „Benutzung eines Fahrzeugs" im Zusammenhang mit einem Unfall ersucht, an dem ein Militärfahrzeug beteiligt war und der sich auf einem Gelände für Militärmanöver ereignete (Rechtssache Núñez Torreiro, C-334/16).
3Die portugiesische, die estnische, die irische, die spanische und die lettische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs haben in dieser Rechtssache Erklärungen abgegeben.
EuGH, Urteil C-514/16 vom 28.11.2017