Für Sie gelesen
Sehr geehrte Apothekerin, sehr geehrter Apotheker,
hier ist der vollständige Text für Sie:
APOTHEKE | Medienspiegel & Presse | Glosse
Karl Lauterbach hat es wieder getan. Der Bundesgesundheitsminister hält eisern an seiner Vision der Telepharmazie fest, entschlossen, sie noch vor dem Ende seiner Amtszeit durchzusetzen. Doch hinter diesem Vorhaben verbirgt sich mehr als nur der Fortschritt in der Apothekerschaft. In Wirklichkeit eröffnet diese Innovation eine geniale Möglichkeit: Rentner können nun zurück ins Arbeitsleben geholt werden, ohne dass das Rentenalter angehoben werden muss. Willkommen in der neuen Ära der Sitzvertretung!
Man muss es ihm lassen, Lauterbach denkt praktisch. Sitzen kann man schließlich auch noch mit 80. Die bloße virtuelle Anwesenheit eines approbierten Apothekers in einer von sechs Apotheken reicht aus. Der Apothekerberuf wird auf diese Weise zwar ein wenig abgewertet, aber das eröffnet auch die Möglichkeit, ältere Personalressourcen wieder nutzbar zu machen. Dank Telepharmazie kann sich die betagte Apothekerin ganz bequem aus dem Ruhestand als Sitzvertretung zuschalten lassen. Mit einem Fahrdienst werden die acht Stunden Anwesenheit realisiert – alles im Sitzen, versteht sich.
Für die Apotheke auf dem Land ist das ein echter Glücksgriff. Nehmen wir die Apotheke Sapientia, die eigentlich schließen sollte, weil sich kein Nachfolger fand. Dank der neuen Regelung konnte die ehemalige Inhaberin aktiviert werden. Sie lebt zwar im Altersheim, aber das ist per se ja kein Hindernis. Ihr findiger Enkel, frisch mit einem BWL-Studium ausgestattet, erledigte den Papierkram und richtete ihr einen Laptop ein. Nun sitzt die Wieder-Inhaberin den ganzen Tag vor dem Laptop und wartet auf Anrufe ihrer PTAs. Endlich wird sie wieder gebraucht!
„Anders wäre das auch gar nicht machbar“, erklärt die rüstige Dame. „Welche Inhaberin, die auch noch in ihrer Hauptapotheke steht, soll sich denn nebenbei auch noch um die Anrufe aus den fünf Filialen kümmern? Das geht doch nicht! Ich hingegen bin froh, dass ich wieder gebraucht werde.“ Die PTAs aus den Filialen sind froh, auf die immense Berufserfahrung zurückgreifen zu können. Viele der Stammkunden kennt die Apothekerin schon seit ihrer Kindheit – näher am Patienten geht es nicht!
Und so konnten auch die kleinen Apotheken im Umland gerettet werden. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Dass die Inhaberin hin und wieder kleine fachliche Aussetzer hat, ist nicht weiter dramatisch. Schließlich geht es in diesem Konstrukt nicht primär um Patientensicherheit. Die pflichtbewussten PTAs wissen zum Glück meistens, wie sie Fehler ausbessern können. „Schwund ist immer“, lacht die Inhaberin.
Die Telepharmazie sollte ursprünglich dazu genutzt werden, Patient analog zur Telemedizin pharmazeutisch zu beraten. Doch Lauterbach nutzt das Konstrukt nun (voraussichtlich) zur Aufweichung der inhabergeführten Apotheke. Dabei wackelt das Konzept an allen Ecken und Enden. „Wie sollen wir einen Mangelberuf durch einen anderen ersetzen?“, fragt Apothekerin Sarah Doll zu Recht. Denn auch wenn dadurch weniger Apotheker gebraucht würden, gibt es weiterhin nicht genug PTAs.
Die Zuschaltung von Approbierten über einen Bildschirm ist alles andere als praxistauglich. Wie das Ganze überhaupt in der Praxis funktionieren soll, wissen nicht einmal die mit der größten Praxiserfahrung. Nicht schlimm – Lauterbach weiß es auch noch nicht. In seinem Sprechstunden-Format betonte er erneut, wie wichtig die Etablierung der Telepharmazie sei: „Auf dem Land haben wir sonst bald nur noch den Versandhandel. Dort sterben die Apotheken aus.“ In den Zweigapotheken könnten sich PTAs und Apotheker
abwechseln. Die Abgabe von Arzneimitteln könne von einer PTA übernommen werden; bei Nachfragen werde „der Präsenzapotheker telepharmazeutisch zugeschaltet“.
Ein Beispiel, wie die Aufweichung des Mehrbesitzverbotes in der Praxis aussieht, zeigt bereits jetzt Apothekerin Christl Kraus aus Pforzheim. Mit stolzen 78 Jahren rettet sie die väterliche Apotheke, unterstützt von ihrem Sohn, der bereits vier Apotheken führt.
Wie das mit der Telepharmazie umgesetzt werden soll, wird die meisten Apotheken vermutlich erst beschäftigen, wenn es so weit ist. Bis dahin sind Ausfälle jeglicher Art oder immer wieder präsente Retaxverfahren mit den Krankenkassen einfach der fiesere Stein im Schuh. Da kann man nicht jeden Brand löschen; Schwund ist eben immer.
Dank Telepharmazie erleben wir eine Renaissance der Apotheken-Rentner. Vielleicht sollte man das Motto „Alt, aber gut“ wiederbeleben. Ob dies wirklich die Lösung für den Fachkräftemangel ist oder nur ein weiteres bürokratisches Konstrukt, wird die Zukunft zeigen. Bis dahin bleibt uns nur, dem findigen Enkel mit dem BWL-Studium zu danken und der rüstigen Rentnerin viel Spaß vor dem Laptop zu wünschen.
Von Engin Günder, Fachjournalist
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