Für Sie gelesen
Sehr geehrte Apothekerin, sehr geehrter Apotheker,
hier ist der vollständige Text für Sie:
MySecur® Nachrichten - APOTHEKE:
APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |
Apotheken Nachrichten sind heute DAV will längeren ePA-Zugriff, PTA-Kompetenzen im Fokus, Pflegegrad-1 bleibt Zündstoff
Praktische Konsequenzen für AMTS und Teamprozesse, Status der Reformgruppe und mögliche Effekte für Alltagsunterstützung
Apotheken-News: Bericht von heute
Der Tag bringt vier Entwicklungen, die Apotheken unmittelbar betreffen: In der Debatte um die PTA-Vertretungsbefugnis prallen Selbstverständnis und Versorgungsrealität aufeinander – zwischen Wertschätzung, Qualifikationsprofil und sicherer Verantwortungszuweisung. Parallel treibt The Platform Group ihr Apotheken- und B2B-Geschäft mit der Mehrheitsübernahme von Pharmosan/Vamida und Apothekia voran; der Zusammenschluss verspricht Logistik- und Schulungseffekte, wirft aber Fragen nach Marktrolle und Schnittstellen zu Offizinen auf. In der Telematikinfrastruktur startet die „ePA für alle“ für Apotheken mit eng gefasstem Zugriffsfenster; der DAV fordert erweiterte Lese-/Schreibrechte und praktikable Benachrichtigungen, um AMTS-Vorteile tatsächlich zu heben. Schließlich rückt Pflegegrad 1 in den Fokus: Die Arbeitsgruppe zur Pflegereform soll Optionen sortieren, während Verbände vor Lücken in der Alltagsunterstützung warnen. Gemeinsam ist den Themen: Es geht um Verfahren, Zuständigkeiten und die Messbarkeit von Wirkung – heute und in den kommenden Quartalen.
PTA-Vertretungsbefugnis im Fokus, Personalnot treibt Debatte, Rechtsrahmen und Praxispragmatismus kollidieren
Die Debatte um eine erweiterte Vertretungsbefugnis für PTA verläuft scharfzüngig, doch der Kern ist nüchtern: Wie lässt sich Versorgung im Alltag stabil halten, wenn Personal fehlt und die Nachfrage nicht wartet? In Stellungnahmen wird teils von „Stimmungsmache“ gesprochen, teils vom „Gebot der Stunde“ – beides signalisiert eine aufgeheizte Wahrnehmung, nicht zwingend klare Entscheidungsgrundlagen. Faktisch stehen drei Ebenen nebeneinander: rechtliche Zuständigkeiten, die Organisation in der Offizin und die Erwartungen von Patientinnen und Patienten. Wer diese Ebenen vermischt, erzeugt Missverständnisse; wer sie trennt, schafft Vergleichbarkeit von Optionen. Erst wenn Aufgaben, Aufsicht und Haftung präzise abgebildet sind, wird aus einer Schlagzeile eine handhabbare Regel.
Nach geltender Systematik arbeiten PTA eigenständig, aber unter Aufsicht einer Approbierten oder eines Approbierten; die Gesamtverantwortung bleibt beim Apothekenleiter. Im HV erledigen PTA einen Großteil der Beratung, prüfen Rezepte, stellen Rezepturen her und sichern damit Prozessqualität – in definierten Grenzen. Zugleich sind Notdienste, Urlaubszeiten und Krankheitswellen planungsintensiv; hier entsteht der Reibungspunkt, an dem Vertretung diskutiert wird. Dass hier Emotionen aufflammen, erklärt sich aus dem Spannungsfeld zwischen Anerkennung der PTA-Kompetenz und Sorge um Patientensicherheit. Ein sachlicher Ausgangspunkt ist deshalb die Frage, welche Aufgaben in welchen Situationen delegierbar sind und welche zwingend ärztlich oder approbationsgebunden bleiben.
Praktikable Modelle setzen auf klar umrissene Vertretungsszenarien statt auf eine „Vertretung auf Zuruf“. Dazu gehören: definierte OTC-Indikationskorridore mit Abbruchkriterien, wiederkehrende Standardfälle mit dokumentierter SOP, sowie eng geführte Prozesse bei Rezeptannahme und Abgabe. Erforderlich wären ein Zusatzcurriculum für PTA mit Prüfmodul, ein schriftlicher Delegationsrahmen der verantwortlichen Approbierten, Sicht- und Rufweite (oder zertifizierte Tele-Supervision) sowie verbindliche Dokumentation jeder kritischen Entscheidung. Haftungsfragen sind vorab zu klären: Verantwortlichkeiten, Meldewege, Auditzyklen. So entsteht kein „neues Berufsbild“, sondern eine präzisere Arbeitsteilung auf Zeit, die rechtlich gehalten und im Alltag überprüfbar ist.
Aus der Betriebslogik folgt, dass Vertretung nur so stark sein darf, wie ihre Rückversicherung im Team. Dienstpläne brauchen Redundanzen, digitale Checklisten reduzieren Variabilität, und Vier-Augen-Punkte an Schwellenentscheidungen senken das Risiko systematisch. Gerade in ländlichen Regionen kann eine belastbare Vertretungsarchitektur Schließzeiten vermeiden, ohne die Schwelle zum ärztlichen Vorbehalt zu überschreiten. Kommunikationsqualität nach innen ist dabei Schlüssel: Wertschätzung für PTA und klare Sprache zu Grenzen verhindern, dass fachliche Diskussion als Abwertung erlebt wird. Nach außen zählt Verlässlichkeit: Wer begründet delegiert und sauber dokumentiert, erhöht Akzeptanz – unabhängig davon, wie laut die Debatte geführt wird.
Die politischen Linien bleiben erkennbar: Entwürfe, die Vertretung erlauben wollen, verlangen Präzision bei Qualifikation, Supervision und Vergütung; Gegenpositionen pochen auf Ärzt*innen- und Approbationsvorbehalte als Patientenschutz. Einen produktiven Ausweg eröffnen zeitlich befristete Pilotierungen mit harten Qualitätsmetriken (Beratungsqualität, AMTS-Indikatoren, Eskalationsquoten, Kundenzufriedenheit, Fehlerreports) und externer Evaluation. Trägt das Modell unter Last, lassen sich Ergebnisse skalieren; scheitert es, ist der Korrekturpfad definiert. So wird aus der Kontroverse kein Kulturkampf, sondern ein Verfahren mit überprüfbarer Wirkung. In gleicher Logik rückt im Anschluss die Strukturfrage der Versorgung in den Blick – wie Plattformen, Großhändler und digitale Schnittstellen Stabilität oder neue Abhängigkeiten erzeugen und damit den Alltag der Offizinen prägen.
TPG kauft Pharmosan/Vamida, Plattform bündelt Aponow & Apothekia, Folgen für Einkauf und Versand
Die Übernahme von Pharmosan samt der Versandapotheke Vamida durch The Platform Group (TPG) verschiebt Gewichte in einer Nische, die seit Jahren fragmentiert ist: digitale Warenbeschaffung, B2B-Orderkanäle und Weiterbildungsangebote für Apotheken. Bereits 2022 hatte TPG mit Aponow einen Markteintritt über eine Schnittstelle zu Herstellern und Offizinen vollzogen; nun kommt mit Pharmosan ein österreichischer Großhändler hinzu, der Arztpraxen und Apotheken bedient, flankiert von Vamida als grenzüberschreitendem Versandarm. Damit entsteht ein Verbund, der Beschaffung, E-Commerce, Schulung (Apothekia) und Logistikdaten enger koppeln kann, als es einzelne Häuser je nach IT-Reifegrad vermögen. Für lokale Apotheken ist die Kernfrage nicht, ob TPG „größer“ wird, sondern was an Prozess- und Konditionsvorteilen tatsächlich am HV-Tisch ankommt. Margen, Verfügbarkeit und Datentransparenz sind in dieser Reihenfolge die Stellhebel, an denen sich Nutzen im Alltag messen lässt.
Strukturell arbeitet TPG als Plattform-Holding, die heterogene Branchen integriert und Skalensynergien über Prozesse, nicht nur über Volumen, sucht. Das Apothekensegment ist klein im Vergleich zu Mode- oder Marktplatzsparten, profitiert aber von Infrastruktur, die bereits für andere Verticals aufgebaut wurde: Payments, Fulfillment, Katalognormierung, Mandantenfähige PIM/ERP-Schichten. Wird Pharmosan als „Konnektor“ zwischen Herstellern, Ärzten und Apotheken verstanden, kann Aponow als Frontend die Bestelllogik vereinheitlichen, während Vamida im D2C-Segment Signalwirkung auf Sortimentstiefe, Servicezeiten und Retourenprozesse entfaltet. Für Apotheken eröffnet das Chancen – etwa in spitzer, saisonaler Bevorratung, schnelleren Nachläufen und automatisierten Substitutionsvorschlägen bei Engpässen. Gleichzeitig verschärft die Plattformlogik alte Zielkonflikte: Je mehr Daten über Bedarfe und Rotationen zentral zusammenlaufen, desto höher die Abhängigkeit von einem Anbieter, der Konditionen über Cluster denken wird.
Operativ zählen drei Felder. Erstens die Preis-/Konditionsmechanik: Ob die in Aussicht gestellten Mehrumsätze (Skaleneffekte, bessere Einkaufspreise, Bündelrabatte) bei Endkundenpreisen oder Offizin-Margen ankommen, ist keine Selbstverständlichkeit; Plattformen neigen zur Marge in der Mitte. Zweitens die Verfügbarkeitssteuerung: In Engpasslagen entscheidet die Priorisierungslogik darüber, ob lokale Offizinen pünktlich beliefert werden oder ob große Abnehmer den Puffer absorbieren. Transparente SLA, einsehbare Cut-Off-Zeiten und belastbare Ersatzvorschläge (ATC-nah, Rabattvertragstauglichkeit, pharmazeutische Äquivalenz) wären hier harte Qualitätsmarker. Drittens die Daten-Governance: Wer sieht wann welche Bewegungs-, Preis- und Abgabedaten? Für Apotheken ist relevant, dass sensible Kennzahlen nicht als Druckmittel in Verhandlungen oder als Benchmarks gegen die eigenen Umsätze zurückfließen; datenschutzrechtliche und wettbewerbliche Leitplanken müssen ex ante dokumentiert sein.
Rechtlich und politisch bleibt die Versandapothekenfrage der wunde Punkt. Vamida operiert aus Tschechien mit Schwerpunkt Österreich/Osteuropa; faktisch zeigt die Konstellation, wie D2C-Modelle und B2B-Beschaffung unter einem Dach koexistieren können. Für deutsche Präsenzapotheken ist weniger der „Versand per se“ problematisch als die Konditionsarbitrage zwischen Kanälen: Wenn der gleiche Verbund Einkaufskonditionen verhandelt und zugleich Endkundengeschäfte abwickelt, drohen Interessenkonflikte. Ein sauberer Trennungsmechanismus – organisatorisch, technisch, vertraglich – ist kein Nice-to-have, sondern Voraussetzung, um Vertrauen in die Plattformökonomie zu sichern. Hinzu kommt die Frage der Lieferkettenresilienz: Regionale Lager (wie jüngst bei Industriebränden sichtbar) brauchen Rückfallebenen; hier können vernetzte Vertriebszentren Stärken ausspielen, sofern Priorisierung und Eskalation für Kleinstmengen nicht hinter Großkunden zurückstehen.
Für den Apothekenalltag entscheidet am Ende die Umsetzungstiefe. Eine echte Entlastung entsteht erst, wenn Bestellprozesse in die Warenwirtschaft integriert sind, Substitutionen regelbasiert erfolgen, Preis-/Bonus-Logiken transparent in die Deckungsbeitragsrechnung einlaufen und Reklamationen friktionsarm abgewickelt werden. Schulungsangebote wie Apothekia sind dann kein Beiwerk, sondern die zweite Schiene: Standardisierte Micro-Trainings zu Rabattverträgen, Engpassmanagement, eRezept-/ePA-Schnittstellen und Sichtwahl-Optimierung. Messbar wird Nutzen über wenige Kennziffern: Servicegrad (On-Time/Complete), Restmengenquote, Engpass-Substitutionen mit AMTS-Check, durchschnittlicher Nachlauf, sowie Nettoeffekte auf den Rohertrag je Kategorie. Wo Plattform und Offizin diese Kennzahlen teilen und kontinuierlich verbessern, entsteht ein partnerschaftliches Modell; wo Reporting asymmetrisch bleibt, wächst die Abhängigkeit. Im nächsten Schritt wird relevant, wie parallel laufende ePA-/eMP-Ausbaustufen und TI-Nachweise in die Beschaffungsschnittstellen greifen, damit Medikationsänderungen und Warenströme synchron bleiben.
Aus derselben Logik der Versorgungssicherheit folgt der Blick auf die digitale Primärversorgung und Zugriffsrechte: Wo Plattformen Prozesse bündeln, müssen ePA/eMP-Schnittstellen, Dokumentation und Verantwortlichkeiten genauso eindeutig sein wie Bestell- und Priorisierungsregeln; erst dann tragen integrierte Modelle im Alltag weiter, als es Einzelinseln je könnten.
ePA-Pflicht startet, Zugriffsfenster begrenzt, DAV fordert Ausbau
Seit dem 1. Oktober gilt die „ePA für alle“ auch für Apotheken – vorausgesetzt, die technische Anbindung steht und die Prozesse sind geschult. In der jetzigen Ausbaustufe sehen die Teams vor allem den elektronischen Medikationsplan, der aus E-Rezept-Daten befüllt wird und einen ersten, aber unvollständigen Blick auf die Gesamtmedikation gibt. Fehlstellen betreffen weiterhin nicht erfasste BtM-Verordnungen, papierne Rezepte sowie OTC-Anwendungen, die erst mit dem künftigen eMP-Schreibrecht systematisch ergänzt werden können. Der Deutsche Apothekerverband (DAV) rückt daher neben der Funktionstiefe vor allem das Zeitregime in den Mittelpunkt: Der aktuelle Dreitageszugriff ab Stecken der eGK reicht für ein kontinuierliches Medikationsmanagement praktisch nicht aus. Gefordert werden längere Zugriffszeiträume, klar definierte Schreibrechte und die Möglichkeit, strukturierte Dokumente – etwa zu pharmazeutischen Dienstleistungen – direkt in der Akte zu hinterlegen.
Auf der Umsetzungsebene stehen drei miteinander verzahnte Aufgaben: die Vervollständigung der Daten, die Prozesssicherheit im Alltag und die eindeutige Verantwortungszuordnung. Vervollständigung heißt, OTC- und papierbasierte Verordnungen ebenso abzubilden wie Dosierhinweise und Einnahmeschemata, die über das bekannte 4-er-Schema hinausgehen. Prozesssicherheit bedeutet, dass Einträge revisionsfest, zeitgestempelt und nachvollziehbar den Rollen zugeordnet werden, damit Abgleich, Interaktionsprüfung und Eskalation nicht im Graubereich passieren. Verantwortungszuordnung wiederum verlangt, dass zwischen Lese-, Vorschlags- und Schreibrechten unterschieden wird und jede Änderung eine prüfbare Autorenschaft trägt. In Summe ergibt sich erst dann ein AMTS-Mehrwert, wenn Vollständigkeit, Aktualität und Zuständigkeit gleichzeitig erfüllt sind.
Technisch ist die TI-Landschaft ein Mosaik aus Konnektoren, PVS/WaWi-Schnittstellen, Kassen-Apps und Akten-Backends – leistungsfähig, aber störanfällig, wenn Übergaben nicht standardkonform laufen. Für den Apothekenalltag zählt, dass ePA-Zugriffe ohne Medienbruch in die Warenwirtschaft integriert sind: Medikationsänderungen müssen den AMTS-Check triggern, Dokumente aus pDL-Prozessen sollten als strukturierte Datensätze, nicht als unauffindbare PDFs, im Verlauf erscheinen. Eine Volltextsuche ist mehr als Komfort; sie entscheidet, ob relevante Stellen aus Fremddokumenten rechtzeitig auffallen. Parallel braucht es ein transparentes Benachrichtigungssystem für relevante Ereignisse, das nicht in Alarmflut endet: Priorisierte Hinweise bei neuem Hochrisiko-Arzneimittel, relevanten Laborwerten oder Doppelverordnungen sind sinnvoll, generische „Alles-neu“-Pushs eher hinderlich. Erst mit dieser Orchestrierung wird die ePA vom Archiv zur Arbeitsgrundlage.
Rechtlich und politisch bleibt die Balance zwischen Datensparsamkeit, Zweckbindung und Versorgungsnutzen sensibel. Ein längeres Zugriffsfenster für Apotheken muss durch klare Zweckdefinitionen und Protokollierung flankiert werden, damit Vertrauen auf Patientenseite wächst statt sinkt. Gleichzeitig dürfen kurze Zugriffe nicht zum Sicherheitsrisiko werden, wenn relevante Informationen nach Ablauf schlicht unsichtbar sind. Eine Lösung kann in gestuften Zugriffsmodi liegen: kurzfristig weit, langfristig schmal – ergänzt um Ereignis-Bezugsrechte, die bei definierten Medikationsänderungen automatisch greifen. Für die Forschung eröffnet die perspektivische Datenausleitung an das FDZ Gesundheit Chancen, setzt aber strenge Anonymisierung und Governance voraus; Versorgung und Sekundärnutzung dürfen sich nicht in den Weg geraten, sondern müssen technisch getrennt und organisatorisch abgestimmt sein.
Für Teams vor Ort entscheidet der messbare Effekt auf Qualität und Effizienz. Ein robuster Minimal-Satz an Kennzahlen macht Fortschritt sichtbar: Anteil vollständig erfasster Gesamtmedikationen, Zeit bis zum Abgleich nach Neuverordnung, erkannte potenziell schwerwiegende Interaktionen pro 1.000 Abgaben, dokumentierte pDL-Einträge in der ePA sowie Rückfragen- und Eskalationsquoten Richtung Arztpraxis. Wo diese Werte steigen oder fallen, wird die Diskussion um Rechte und Pflichten weniger ideologisch und mehr ergebnisorientiert. Gleichzeitig müssen Kassen und Politik die Infrastruktur verlässlich finanzieren: TI-Pauschalen, Support-SLA und Ausfallprozesse gehören in einen Rahmen, der nicht alle sechs Monate umgebaut wird. Am Ende zählt, ob Patientinnen und Patienten schneller, sicherer und mit weniger Doppelarbeit versorgt werden – das ist der Prüfstein, an dem die nächste Ausbaustufe sich wird messen lassen. In dieser Logik rückt im Anschluss die Systemfrage in den Blick, wie pflegerische Leistungen und ihre Einstufung gesteuert werden und welche Auswirkungen Prozessqualität auf Akzeptanz und Finanzierung hat.
Pflegegrad 1, Reformdruck und Verfahren, Signale und soziale Folgen
Berichte über eine mögliche Streichung des Pflegegrads 1 haben eine Grundsatzdebatte über Ziel, Reichweite und Finanzierung der Pflegeversicherung entfacht. Kanzleramtschef Thorsten Frei wich in Interviews aus, verwies auf eine laufende Bund-Länder-Arbeitsgruppe und stellte Ergebnisse für die kommenden Wochen in Aussicht. Politisch bleibt damit vorerst nur festzuhalten: Es gibt Reformdruck, aber keinen verabredeten Beschluss. Fachlich gilt: Pflegegrad 1 ist die niedrigste Stufe, eröffnet keinen Anspruch auf Pflegegeld, ermöglicht aber niedrigschwellige Leistungen wie den Entlastungsbetrag, Zuschüsse für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, Hausnotruf oder pauschale Hilfsmittel. Gerade diese Bausteine sollen Selbstständigkeit erhalten und stationäre Verläufe vermeiden, was sie in der Logik der Pflegeversicherung zu einem präventiven Instrument macht.
Die Reaktionen aus Ländern, Verbänden und Opposition zeigen die Bruchlinien. Sozialverbände sehen in einer Streichung ein falsches Signal, weil sie jene träfe, die leichte Einschränkungen kompensieren müssen und Angehörige entlasten. Aus der Koalition ist bislang kein eindeutiger Vorstoß dokumentiert; zugleich wird auf demografischen Druck, Fachkräftemangel und Beitragsdynamik verwiesen. Die Arbeitsgruppe soll Optionen sortieren: Leistungsschnitt, Umsteuerung, Zielgenauigkeit, Finanzierung. Dass das Thema früh öffentlich wurde, erhöht Transparenz, steigert aber auch die Erwartung, dass Begründungen, Folgen und Alternativen messbar belegt werden. Bis zur Vorlage belastbarer Vorschläge bleibt der Status quo in Kraft.
Ökonomisch und versorgungstechnisch wäre eine Streichung doppelt relevant. Zum einen verlören viele Betroffene den niederschwelligen Zugang zu Unterstützungsleistungen, die heute Alltagskompetenzen stabilisieren. Zum anderen könnte ein Teil der Bedarfe in teurere Sektoren ausweichen – von kommunaler Hilfe über Kurzzeit- bis zu stationärer Pflege – und damit Folgekosten erzeugen, die die intendierte Entlastung konterkarieren. Für Angehörige, die einen Großteil der Versorgung tragen, fiele ein Baustein weg, der Entlastung organisiert und Überlastung vorbeugt. Das Risiko eines „falschen Sparens“ ist deshalb nicht theoretisch, sondern hängt an konkreten Substitutionspfaden. Ohne funktionale Ersatzinstrumente entsteht eine Lücke im Versorgungsmix.
Verfahrensseitig stellen sich handwerkliche Fragen, die vor jeder Entscheidung beantwortet sein müssen. Gilt Bestandsschutz für laufende Bewilligungen oder greift die Änderung stichtagsbezogen? Welche Brückenleistungen sichern die Zeit bis zur erneuten Begutachtung, falls Schwellenwerte angepasst werden? Wie wird Missbrauch verhindert, ohne den Zugang bürokratisch zu erschweren, und wie werden Qualitäts- und Wirkungsdaten erhoben? Ein klarer Kommunikationsplan ist ebenso nötig wie einfache Antragswege, sonst verlagert sich Unsicherheit an die Schalter von Pflegekassen, Pflegestützpunkten und Hausärzten. Entscheidend ist, dass Nutzen, Kosten und Verfahrensaufwand in einem realistischen Verhältnis stehen.
Im Systemblick konkurrieren drei Stellhebel: Beitragsanhebungen, Steuerzuschüsse und Leistungssteuerung. Höhere Beiträge stabilisieren kurzfristig, treffen aber Erwerbstätige direkt; Steuerzuschüsse verbreitern die Finanzierung, erfordern jedoch fiskalische Prioritäten zulasten anderer Politikfelder. Leistungssteuerung kann Zielgenauigkeit erhöhen, darf aber Prävention nicht schwächen, wenn sie nachgelagert Mehrkosten erzeugt. Sinnvoll erscheint ein Paket aus punktueller Zielschärfung, klaren Wirkindikatoren (Erhalt von Selbstständigkeit, Vermeidung stationärer Eintritte, Entlastung pflegender Angehöriger) und verlässlicher Finanzierung. In dieser Logik entscheidet am Ende nicht die Schlagzeile, sondern ob Verfahren einfach, Gründe nachvollziehbar und Wirkungen messbar sind; daran wird sich die Reformakzeptanz messen lassen.
Tagesthemenüberblick: https://mysecur.de/aktuell
Zurück zur Übersicht