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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |
Die Apotheke als Ort der Versorgung, Technik und Verantwortung ist längst keine analoge Bastion mehr, sondern ein digital vernetzter, systemisch verwobener Knotenpunkt im Gesundheitssystem, der zwischen Automatisierung, Fachkräftemangel und neuen Sicherheitsanforderungen täglich neu balancieren muss, wobei nicht nur technische Systeme wie Kommissionierer, sondern auch Menschen unter Hochdruck stehen, weil Betriebsmodelle an Effizienzgrenzen stoßen, qualifiziertes Personal fehlt und Beratung in ihrer Bedeutung für Versorgungsqualität, Therapietreue und Patientensicherheit unterschätzt wird, was besonders deutlich wird, wenn elementare Produkte wie Insuline ausfallen, Therapieumstellungen erfolgen müssen und Apotheken als Vermittler zwischen System und Mensch agieren, während zugleich biologische Risiken wie das Bornavirus oder soziale Herausforderungen wie Hitzeschutz, Sportintegration in Krebstherapien und die differenzierte Betrachtung von Gewichtsreduktion eine neue Versorgungsdimension eröffnen, die nicht nur medizinisches, sondern auch politisches und betriebliches Umdenken verlangt – und damit die Apotheke zum Brennpunkt von Technikverantwortung, Führungsfähigkeit und Resilienzentwicklung macht.
Automaten steuern den Alltag, Versicherer sichern die Risiken, Beratung gewinnt an Tiefe
Wie Automatisierung Apotheken neu strukturiert, technologische Angriffe neue Schutzschichten erfordern und der Mensch im Zentrum bleibt
Die Apotheke der Zukunft klackert, sortiert und denkt mit. Was nach futuristischem Labor klingt, ist vielerorts längst Realität: Automatisierungssysteme nehmen Apothekenteams repetitive Aufgaben ab, greifen in das Management der Lagerhaltung ein und beschleunigen die tägliche Logistik. Doch der Fortschritt hat einen Preis – finanziell, strukturell, haftungsrechtlich. Kommissioniersysteme sind keine stillen Helfer mehr, sondern komplexe, vernetzte Systeme, deren reibungsloser Betrieb die gesamte Funktionsfähigkeit einer Apotheke mitbestimmt. Eine neue Abhängigkeit ist entstanden – und mit ihr die Notwendigkeit eines präventiven Sicherheits-, Haftungs- und Versicherungsbewusstseins, das weit über klassische Betriebsabläufe hinausgeht.
Das Herzstück der Automatisierung in Apotheken sind sogenannte Kommissionierautomaten. Sie übernehmen die Lagerverwaltung, befördern Arzneimittel computergesteuert zur Abgabevorrichtung, erfassen Packungen vollautomatisch und entlasten das pharmazeutische Personal von wiederkehrenden Aufgaben. Die Vorstellung, dass jeder Griff ins Regal manuell erfolgt, ist in digitalisierten Apotheken längst überholt. Stattdessen bestimmen Sensoren, Roboterarme und barcodegesteuerte Lagerkassetten den internen Ablauf – präzise, schnell und meist fehlerfrei. Der Vorteil liegt auf der Hand: Zeitgewinn und Ressourcenschonung ermöglichen eine Verlagerung hin zu mehr persönlicher Beratung am HV-Tisch. Doch gleichzeitig verschieben sich die Anforderungen an das Apothekenteam. Technologisches Verständnis, digitaler Überblick und der Umgang mit Störungen gehören zur neuen Grundausstattung.
Die ökonomische Einstiegshürde bleibt hoch. Nicht nur die Anschaffungskosten der Systeme – oft im sechsstelligen Bereich –, sondern auch Installationsplanung, Raumumbauten, Schulungen und Anpassungen der IT-Infrastruktur erfordern solide Investitionen. Gerade kleinere Einzelapotheken stehen vor einem Dilemma: Wer nicht automatisiert, verliert langfristig an Effizienz – wer automatisiert, muss das finanzielle Risiko tragen. Viele Betreiber versuchen, über Leasingmodelle, Förderprogramme oder betriebliche Rückstellungen eine tragfähige Brücke zu schlagen. Doch die Erfahrung zeigt: Ohne eine strategisch geplante Amortisation auf Sicht von mindestens zehn Jahren ist die Automatisierung kein Selbstläufer.
Parallel zur Technik wachsen die Abhängigkeiten. Wenn ein Kommissioniersystem ausfällt, steht nicht nur die Packungsausgabe still – es kann die gesamte Betriebsfähigkeit lahmlegen. Genau hier setzt das Thema Versicherbarkeit an. Automatenversicherungen sind heute keine exotischen Zusatzpolicen mehr, sondern entwickeln sich zu einer zentralen Komponente betrieblicher Resilienzplanung. Die Anforderungen gehen weit über klassische Geräteschäden hinaus: Allrisk-Deckungen, inklusive Schutz bei Bedienfehlern, Softwarefehlern, Stromschwankungen oder vorsätzlicher Manipulation, bilden heute die Regel. Hinzu kommen Bausteine wie Betriebsunterbrechungsversicherung, Datenwiederherstellung oder gar gezielte Cyber-Deckungen – falls das System extern attackiert oder über infizierte Schnittstellen kompromittiert wird.
Denn je vernetzter die Systeme, desto exponierter wird der Betrieb. Cybersecurity wird damit zur zweiten Sollbruchstelle. Kommissioniersysteme sind oft mit Warenwirtschaft, Rezeptscanner, Bestellsystem und Kundenverwaltung verbunden. Wird eine Schwachstelle ausgenutzt, etwa über ein ungepatchtes Modul oder ein unsicheres WLAN, droht im schlimmsten Fall ein Totalausfall – mit Datenverlust, Rezeptverlust und Reputationsschaden. Die DSGVO macht keine Ausnahmen für Technikbegeisterung: Wer sensible Gesundheitsdaten speichert oder verarbeitet, trägt volle Verantwortung. Viele Apotheken unterschätzen dieses Risiko – oder lagern es bequem an den Technikdienstleister aus. Doch rechtlich haftbar bleibt der Betreiber. Die Investition in Cybersicherheit – von Firewalls über Zugangskontrollen bis hin zu Verschlüsselung und Penetrationstests – ist damit kein Kann mehr, sondern ein Muss.
Auch kulturell verändert sich die Rolle des Apothekers. Wo früher das Auspacken, Nachfüllen, Zählen, Suchen und Stellen zum Alltag gehörte, gewinnt heute der Beratungsanteil an Bedeutung. Diese Entwicklung ist keineswegs trivial: Während Automatisierung Effizienz verspricht, bedeutet sie auch eine Umverteilung der Aufmerksamkeit. Das Apothekenteam wird sichtbarer – und damit auch angreifbarer, etwa in Fragen der Aufklärung, Empfehlung oder Plausibilitätsprüfung. Die Verantwortung verlagert sich von der mechanischen zur kognitiven Qualitätssicherung. Wer sich dieser Entwicklung nicht stellt, läuft Gefahr, das Vertrauen der Patienten durch oberflächliche Beratung zu verspielen – trotz Hightech im Lager.
Die Zukunft der Automatisierung in Apotheken liegt in hybriden Konzepten. Systeme, die mitdenken, aber nicht ersetzen. Technologie, die begleitet, aber nicht dominiert. Und Menschen, die den Fortschritt als Werkzeug nutzen, ohne ihre fachliche Souveränität zu verlieren. Versicherer, Systemhersteller, IT-Dienstleister und Berufsverbände sind deshalb gefragt, gemeinsame Standards zu etablieren, die Technik und Verantwortung in Einklang bringen. Noch ist der Markt jung, noch sind viele Haftungsfragen ungeklärt – etwa, wenn durch einen Softwarefehler falsche Arzneimittel ausgegeben werden. Wer haftet – die Apotheke, der Hersteller, der Softwareanbieter?
Fest steht: Die Automatisierung ist weder Allheilmittel noch Risikoersatz. Sie ist ein Instrument – wirksam, wenn richtig eingesetzt, gefährlich, wenn falsch verstanden. Eine ganzheitliche Strategie muss deshalb technologische, ökonomische, rechtliche und ethische Dimensionen berücksichtigen. Apotheken, die diesen Weg bewusst gestalten, sichern sich nicht nur betriebliche Effizienz, sondern auch das Vertrauen der Patienten. Denn wer sichtbar souverän mit Technik umgeht, bleibt glaubwürdiger Partner im Gesundheitswesen.
Fehlsteuerung, Fachkräftelücke, Führungsverantwortung
Warum Betriebe unter Personalmangel leiden, wie Apotheken davon nicht ausgenommen sind und welche Stellschrauben verkannt werden
Fehlender Nachwuchs, stagnierende Bewerberzahlen, überlastete Bestandskräfte – der vielzitierte Fachkräftemangel ist längst zur Systemstörung geworden. Doch was, wenn die Ursachen nicht primär demografisch oder konjunkturell sind, sondern zu einem guten Teil hausgemacht? Die aktuelle Analyse des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung legt diese Deutung nahe – und eröffnet damit eine unbequeme Perspektive für Arbeitgeber. Auch für Apotheken, die zwar unter politischen Rahmenbedingungen ächzen, aber ebenfalls strukturelle Versäumnisse offenbaren, wie die Apothekengewerkschaft Adexa einordnet.
Zunächst die Zahlen: 92 Prozent der befragten betrieblichen Interessenvertretungen sprechen von Personalnot, 83 Prozent berichten über Vakanzen, die länger als drei Monate bestehen, und fast 90 Prozent sehen eine zu geringe Bewerberlage als zentrales Problem. Doch dabei bleibt es nicht. Denn laut Studie ist das Bewerberdefizit nicht nur Resultat äußerer Umstände, sondern Ausdruck innerbetrieblicher Fehlsteuerung – mit strukturellen Defiziten in Lohnpolitik, Arbeitsbedingungen, Weiterbildungsangeboten und Personalentwicklung. Besonders auffällig: Nicht wenige Unternehmen scheinen in der Personalfrage von der Illusion auszugehen, Nachfrage erzeuge schon automatisch Angebot. Die Realität straft diese Haltung Lügen.
Für Apothekenbetriebe – ohnehin durch Honorardeckelung, Reformstau und bürokratische Dauerlast unter Druck – ist der Befund unbequem. Doch Adexa hält fest: Auch in der Offizinbranche sei ein Teil des Problems hausgemacht. Die Gewerkschaft spart sich zwar Einzelfälle, verweist aber auf systematische Muster, die sie seit Jahren beobachtet: ausbleibende Tarifbindung, nicht ausgeschöpfte pDL-Vergütungspotenziale, Überlastung ohne Ausgleich, kaum planbare Arbeitszeiten, ausgedünnte Fortbildungskultur. Wer so agiert, schafft kein Klima der Bindung – und gewinnt keine neuen Köpfe.
Die Studie, die sich sowohl auf die Betriebs- und Personalrätebefragung 2023 als auch auf eine große Erwerbspersonenbefragung stützt, verknüpft zwei Perspektiven: die betriebliche Sicht von innen und die Erfahrungsrealität von Erwerbstätigen und Arbeitssuchenden. Dieses Zusammenspiel macht ihre Aussagekraft besonders hoch. Die Diagnose ist klar: Schlechte Löhne, mangelhafte Weiterbildung, hohe Belastung und unflexible Strukturen schrecken Jobsuchende systematisch ab. Wer heute qualifiziert ist, kann sich zunehmend aussuchen, wo er oder sie arbeitet. Und was geboten wird, entscheidet. Arbeitsorte mit Zukunftsblindheit verlieren.
Immerhin zeigen sich erste Reaktionen: Etwa ein Drittel der Unternehmen ergreift laut Studie gezielte Maßnahmen gegen Fachkräftemangel, elf Prozent planen sie. Dabei im Fokus: interne Weiterqualifizierung, Erhöhung der Ausbildungszahlen, flexiblere Arbeitszeiten, Homeoffice, gelegentlich auch Lohnanpassungen. Einzelne Firmen öffnen sich für neue Zielgruppen, etwa durch regionale Mobilitätsförderung oder gezielte Rekrutierung im Ausland. Doch die Dynamik bleibt begrenzt – und oft reaktiv statt strategisch.
Das strategische Defizit ist zentraler Kritikpunkt von WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. Ihre Einschätzung: Viele Unternehmen hätten nicht verstanden, dass Investition in Beschäftigte ein Hebel gegen den Fachkräftemangel sei – und kein Luxus. Für sie ist der Schlüssel eine vorausschauende Personalpolitik, die auf Qualität, Entwicklung und faire Bedingungen setzt. Genau das aber fehlt vielfach, gerade in kleinen und mittelständischen Betrieben – auch im Apothekenwesen.
Dabei ließe sich argumentieren, dass gerade Apotheken mit ihrer gesellschaftlichen Relevanz, ihrer regionalen Verwurzelung und ihrem Potenzial für qualifizierte Dienstleistungen prädestiniert wären, Fachkräfte nicht nur zu binden, sondern zu begeistern. Doch diese Chance wird zu oft vertan. Die Beispiele von Positivbetrieben, die mit guter Führung, überdurchschnittlicher Vergütung, aktiver Teamkultur und echter Personalentwicklung Erfolge verzeichnen, bestätigen: Der Engpass ist kein Naturgesetz. Er ist ein Managementproblem.
Adexa bringt es in ihrer Stellungnahme zur Studie auf den Punkt: Wer dem Fachkräftemangel begegnen will, muss langfristig denken. Nicht einzelne Maßnahmen bringen die Wende, sondern das Zusammenspiel aus fairer Bezahlung, attraktiven Arbeitsbedingungen, gezielter Qualifizierung und echter Führungskultur. Der Verweis auf äußere Zwänge – etwa auf das Apothekenhonorar – entbindet nicht von der Pflicht zur internen Verantwortung.
Das Fazit: Der Fachkräftemangel ist Realität, aber nicht schicksalhaft. Er ist Ausdruck einer falschen Systemlogik, in der Personalpolitik als Kostenstelle statt als strategisches Investment betrachtet wird. Solange sich das nicht grundlegend ändert, bleiben Engpässe bestehen – selbst bei steigender Bewerberzahl. Und Apotheken, die heute über Nachwuchsmangel klagen, werden morgen ohne Führungsteam dastehen, wenn sie nicht den Mut aufbringen, ihre eigene Rolle im Teufelskreis der Personalnot zu hinterfragen.
Wenn Normalbetrieb nicht mehr reicht, wenn Vorsorge realistisch werden muss, wenn Expertenwissen zum Schutzfaktor wird
Wie Bayern mit einem neuen Krisenrat das Gesundheitssystem aufrüstet, Versorgungseinheiten verbindet und Resilienz als Führungsaufgabe definiert
Krisen kommen selten mit Vorankündigung, und noch seltener treffen sie exakt das System, für das der Plan vorbereitet war. Doch die Komplexität globaler Bedrohungslagen – von Pandemien über Cyberattacken bis hin zu möglichen militärischen Eskalationen – zwingt die Gesundheitspolitik, ihre Planungslogik neu auszurichten. In Bayern hat Gesundheitsministerin Judith Gerlach nun einen Expertenrat für Gesundheitssicherheit ins Leben gerufen, der genau hier ansetzen soll: nicht erst reagieren, wenn das System fällt, sondern aktiv vorgreifen, bevor die Belastungsgrenze erreicht ist. Der Anspruch ist hoch, der Zeitpunkt bewusst gewählt. Denn der Weg zur resilienten Gesundheitsversorgung beginnt nicht mit dem Katastrophenfall – sondern mit der Bereitschaft, auch das Undenkbare professionell zu durchdenken.
Dass ein solches Gremium eingerichtet wird, ist nicht nur politisch symbolisch, sondern systemisch notwendig. Der Expertenrat soll quartalsweise tagen und Akteure aller relevanten Versorgungsebenen zusammenführen – stationär, ambulant, präklinisch, militärisch, pharmazeutisch. Es geht um mehr als Diskussion: Es geht um Abstimmung, Umsetzungsstrategien und künftige Regelungsbedarfe. Während die politische Landschaft in Europa von Unsicherheiten geprägt ist, muss das Gesundheitssystem zur verlässlichen Struktur werden – krisenfest, integriert, widerstandsfähig. Der neue Rat soll Impulsgeber für diese Systemarchitektur sein, ausgestattet mit Fachwissen, Handlungsschnelligkeit und einer klaren Agenda: Wie lassen sich Versorgungswege absichern, wenn Netzwerke ausfallen? Wie bleiben Arzneimittelströme stabil, wenn Lieferketten kollabieren? Und wie muss Personalpolitik in Kliniken und Apotheken aussehen, wenn plötzlich zehnfacher Bedarf entsteht?
Die Ministerin formuliert das, was bislang meist zwischen den Zeilen blieb: Der Normalfall darf nicht länger Maßstab für die Systemlogik sein. Es braucht Szenarien, die über die Routineversorgung hinausgehen – auch juristisch. Denn viele geltende Vorgaben sind für den Regelbetrieb konzipiert, nicht für Ausnahmezustände. Ob im Infektionsschutzrecht, beim Datenschutz oder bei Kompetenzen der Länder und Kommunen: Krisen verändern Zuständigkeiten, Entscheidungsabläufe, rechtliche Schwellenwerte. Wer hier keine Blaupausen hat, improvisiert – mit Risiken für Patienten, Pflegepersonal, Betriebsabläufe. Der Expertenrat soll diese Leerstellen kartieren und Vorschläge machen, wie Übergangsregelungen, Ressourcensteuerung und Kommunikationsketten besser aufeinander abgestimmt werden können.
Teil des Plans ist auch die Schulung sogenannter Pflegeunterstützungskräfte – ein Konzept, das bislang unter dem Radar lief, nun aber als wichtiger Bestandteil der Resilienzstrategie aufgerufen wird. Hilfsorganisationen sollen befähigt werden, Menschen mit Basiskompetenz in Notfallpflege auszubilden, um im Krisenfall überbrückend tätig zu sein. Solche Unterstützungsstrukturen könnten Pflegeeinrichtungen und Kliniken entlasten, sind aber nur dann flächendeckend wirksam, wenn der Bund finanzielle Verantwortung übernimmt. Hier mahnt Gerlach deutlich an: Ohne klare Mittelzusagen bleibt das Vorhaben in der Konzeptphase stecken. Zugleich wird deutlich: Gesundheitspolitik kann Resilienz nicht delegieren. Sie muss sie institutionalisieren.
Die Botschaft des Ministeriums lautet: Auch niedergelassene Strukturen müssen sich einbringen. Hausärzte, Zahnärzte, Apotheken, Pharmaunternehmen, Therapeuten – sie alle sind Teil des Netzwerks, das im Krisenfall trägt oder fällt. Wer sich vorbereitet, stärkt nicht nur das System, sondern auch die eigene Überlebensfähigkeit im Ausnahmezustand. Apotheken beispielsweise sind zentrale Knotenpunkte bei der Notversorgung, werden aber bislang kaum als systemrelevante Partner in der Katastrophenvorsorge gesehen. Dabei könnten sie im Fall von Pandemien oder Versorgungsabrissen nicht nur Medikamente bereitstellen, sondern auch als dezentrale Kommunikationsstellen agieren. Gleiches gilt für Praxen, die bei digitalem Blackout improvisieren müssen – ohne klare Protokolle, ohne Rückkanäle, oft ohne Anbindung an Rettungsstellen.
Gerade im Kontext hybrider Bedrohungen, bei denen Desinformation, Angriffe auf IT-Infrastruktur und klassische Versorgungsunterbrechungen gleichzeitig auftreten, braucht es übergreifende Szenarien. Der Expertenrat soll diese Komplexität bündeln und operationalisieren. Er agiert damit nicht als Taskforce für den Ernstfall, sondern als Denkfabrik für systemische Widerstandsfähigkeit – strategisch, praxisnah, vorausschauend. Das politische Signal dahinter: Resilienz ist keine Option mehr. Sie ist Grundvoraussetzung.
Doch Vorsicht vor Symbolpolitik: Ein Expertenrat kann Impulse setzen, aber keine Systeme stabilisieren, wenn es am Willen zur Umsetzung fehlt. Die Gesundheitsbranche – vom Pflegeheim bis zum Pharmaunternehmen – wartet nicht auf Konzepte, sondern auf konkret ausgestaltete Notfallmechanismen mit Durchgriffsrechten, Finanzierungspfaden und gesetzlicher Rückendeckung. Die Einrichtung des Gremiums ist daher vor allem ein Startpunkt – und ein Prüfstein für das politische Krisenbewusstsein. Denn ein Gesundheitssystem, das in Krisenzeiten nicht nur übersteht, sondern funktioniert, entsteht nicht durch Appelle – sondern durch vorbereitetes Handeln, verbindliche Strukturen und klare Führungsverantwortung.
Insulinversorgung bricht auf Zeit, Marktversagen trifft Patientenschutz, Therapieumstellungen drohen unkoordiniert
Wie Humaninsuline verschwinden, der Engpass neue Abhängigkeiten schafft und Diabetiker:innen zur unfreiwilligen Anpassung zwingt
Als lebenswichtige Arzneimittel zählen Insuline zu denjenigen Substanzen, bei denen jedes Versorgungsrisiko sofort systemische Folgen haben kann. Doch genau diese Sicherheit ist brüchig geworden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) weist aktuell 14 verschiedene Insulinpräparate als lieferengpassbetroffen aus. Die Bandbreite reicht von Humaninsulin-Varianten über moderne Insulinanaloga bis zu Mischinsulinen – und offenbart damit eine gefährliche Streuung: Nicht nur einzelne Nischenprodukte, sondern zentrale Therapieträger sind betroffen. Besonders alarmierend ist, dass sich viele der Engpässe nicht mit konkreten Lieferdaten beenden lassen, sondern häufig mit unklaren Enddaten oder Verzögerungsrisiken versehen sind. Noch gravierender aber sind die gleichzeitigen Marktrücknahmen, die jenseits vorübergehender Lieferprobleme eine strukturelle Lücke reißen: Die Humaninsulin-Sparte von Sanofi ist de facto bereits vom Markt verschwunden, Novo Nordisk zieht schrittweise nach – was etwa zehn Prozent der aktuell insulintherapierten Patient:innen betrifft.
Die betroffenen Menschen, häufig ältere Typ-2-Diabetiker:innen, sehen sich nun einer Umstellung ausgesetzt, die weder medizinisch indiziert noch patientenzentriert koordiniert ist. Statt der individuellen Best-Practice-Therapie entscheidet zunehmend das Marktangebot über den Behandlungspfad. Übrig bleibt nur noch Lilly als letzter Anbieter klassischer Humaninsuline – mit entsprechend wachsender Nachfrage und Preissensibilität. Der Übergang von langjährig bewährten Insulinen zu Ersatzprodukten ist dabei keineswegs trivial: Unterschiede im Wirkprofil, veränderte Applikationshilfen, Dosierungsumstellungen und Alltagseffekte können für viele Betroffene erhebliche Risiken bergen. Die oft unterschätzte Adhärenzbarriere wächst, während Schulungen fehlen und Hausarztpraxen unter steigender Beratungslast ächzen.
Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln sind in Deutschland kein neues Phänomen. Doch dass ein so elementarer Wirkstoff wie Insulin gleich in mehreren Varianten betroffen ist, zeigt: Die Versorgungsarchitektur ist in Teilen falsch aufgebaut. Denn obwohl die Engpassmeldung beim BfArM systematisch erfolgt, fehlt weiterhin eine koordinierte Krisenintervention. So sind etwa für ABASAGLAR in beiden Darreichungsformen (Fertigpen und Patrone) Engpässe bis mindestens Juli 2025 gemeldet. Für NovoRapid PumpCart ist bereits der 18. Juni 2025 als kritische Grenze definiert. Die Einstufung als „nicht verfügbar“ mag auf dem Papier nachvollziehbar sein – in der Praxis bedeutet sie für viele Apotheken tägliche Improvisation, für Patient:innen massive Verunsicherung, für Ärzt:innen Mehraufwand mit kaum steuerbaren Optionen. Der Rückgriff auf alternative Produkte ist nur scheinbar leicht, denn jede Umstellung ist ein neuer Therapieanfang – mit all seinen Risiken, Nebenwirkungen und Ängsten.
Zugleich werden die bestehenden Engpässe von einem strukturellen Rückbau der Produktions- und Distributionslinien begleitet. Global aufgestellte Konzerne ziehen sich aus weniger lukrativen Märkten zurück, Nationalstaaten reagieren spät oder gar nicht. Der deutsche Arzneimittelmarkt gilt im internationalen Vergleich als hochreguliert, aber für Hersteller ökonomisch unattraktiv – insbesondere für Generika oder bewährte Altpräparate. Dass Humaninsuline nun gezielt abgezogen werden, ist kein Zufall, sondern Ausdruck dieser Marktmechanik. Während neue patentgeschützte Analoginsuline mit höheren Margen vermarktet werden, verschwinden klassische Therapieoptionen, die lange den medizinischen Standard bildeten.
Diese Entwicklung trifft auf eine besonders vulnerable Gruppe: Menschen mit Diabetes, die auf eine stabil eingestellte Insulintherapie angewiesen sind. Für viele bedeutet die Therapieumstellung mehr als nur ein neues Produkt – sie bedeutet den Verlust von Kontrolle über ein mühsam eingeübtes Krankheitsmanagement. Gerade ältere Patient:innen, die nicht digital vernetzt oder mobil sind, verlieren dabei schnell den Anschluss. Schulungskapazitäten, Versorgungshilfen und digitale Unterstützungslösungen fehlen, während der strukturelle Druck steigt. Apotheken werden in dieser Konstellation nicht nur zu improvisierenden Verteilzentren, sondern auch zur psychosozialen Auffangstation – ohne jedoch über die nötige Zeit, Honorierung oder Versorgungssicherheit zu verfügen.
Dass das BfArM regelmäßig aktualisierte Engpassmeldungen veröffentlicht, ist Ausdruck eines Bemühens um Transparenz. Doch Transparenz ohne Steuerungsbefugnis schafft wenig. Wenn Präparate wie Liprolog 200 Einheiten/ml oder Actrapid FlexPen ausfallen, braucht es mehr als eine Liste – es braucht einen Versorgungsplan. Und genau der fehlt. Weder gibt es einen zentralen Lagerausgleich, noch eine verpflichtende Bevorratung über Apothekenlager hinaus. Die nationale Arzneimittelreserve greift hier nicht, die gesetzliche Regulierung bleibt reaktiv.
Im Ergebnis ist der Patient das letzte Glied der Versorgungskette – und damit der erste Leidtragende. Politisch wäre ein Interventionsmechanismus nötig, der zwischen Marktentscheidung und Versorgungspflicht vermittelt. Vorschläge wie ein verpflichtender Versorgungsdienst für Grundmedikamente oder die Förderung europäischer Produktionsstandorte liegen seit Jahren auf dem Tisch, werden aber blockiert oder verwässert. Auch ein nationaler Umstellungsfonds, der die Umstiegs- und Beratungskosten kompensiert, wäre denkbar. Denn jede unfreiwillige Therapieveränderung hat ihren Preis – in Unsicherheit, in Komplikationsrisiken und in Folgekosten für das System.
Die aktuellen Lieferengpässe bei Insulin sind mehr als nur eine logistische Herausforderung. Sie sind ein Gradmesser für das Vertrauen in die Systemstabilität der Arzneimittelversorgung. Wenn Grundstoffe nicht mehr verfügbar sind, wenn Marktentscheidungen medizinische Notwendigkeiten unterlaufen, wenn Apotheken nur noch erklären, aber nicht mehr abgeben können – dann ist es Zeit für eine neue Logik in der Arzneimittelpolitik. Eine, die sich an der Versorgung orientiert, nicht an der Verfügbarkeit.
Bornaviren destabilisieren biologische Barrieren, fordern Diagnostik heraus, bedrohen Mensch und Tier
Wie sich das BoDV-1 aus dem Reservoir der Feldspitzmaus zur tödlichen Enzephalitis entwickelt, Forschung nach Wegen sucht und Hygiene zur Schlüsselmaßnahme wird
Im Schutz der Erde und im Schatten der biologischen Forschung lauert ein Erreger, der wie aus der Zeit gefallen wirkt – und doch ist er hochaktuell. Das Bornavirus, genauer: das BoDV-1, galt lange als eine veterinärmedizinische Randnotiz, verantwortlich für merkwürdige neurologische Symptome bei Schafen und Pferden. Doch seit 2018 ist klar: Der Erreger kann auch Menschen infizieren – mit katastrophalen Folgen. In Bayern sind nun drei neue Fälle bekannt geworden: Zwei Männer erkrankt, ein dritter bereits verstorben. Inmitten der sommerlichen Unbeschwertheit rückt damit eine tödliche Bedrohung ins Licht, deren Reichweite und Dynamik Wissenschaft, Gesundheitssysteme und Bevölkerung gleichermaßen überfordert.
Bornaviren gehören zur Familie der Mononegavirales, sie besitzen ein einzelsträngiges RNA-Genom und sind von einer Lipidhülle umgeben. Ihr natürlicher Wirt ist die unscheinbare, aber ökologisch bedeutsame Feldspitzmaus (Crocidura leucodon), ein insektenfressendes Säugetier, das weite Teile Mitteleuropas besiedelt. Nur ein kleiner Teil dieser Tiere trägt das Virus, das sie über Urin, Speichel und Kot ausscheiden – ohne selbst Symptome zu entwickeln. Für den Menschen, als sogenannten Fehlwirt, verläuft eine Infektion hingegen nahezu immer tödlich: Innerhalb weniger Wochen kommt es zu einer fortschreitenden, schweren Entzündung des Gehirns – einer Enzephalitis, gegen die es weder Impfung noch Heilmittel gibt.
Wie es zur Infektion kommt, ist nach wie vor nicht vollständig geklärt. Zwar wird ein Tierbiss als Übertragungsweg weitgehend ausgeschlossen, doch die Virusaufnahme über kontaminierte Erde, Wasser oder Lebensmittel ist realistisch. Auch Schmierinfektionen, etwa über den Kontakt mit Igeln, die ebenfalls Träger sein können, gelten als möglich. Dass sich das Virus meist im Nahfeld verbreitet, zeigt eine Studie aus Bayern: Die genetische Übereinstimmung der Virusvarianten legt nahe, dass Infektionsherde selten mehr als 40 Kilometer auseinanderliegen – ein starkes Indiz für ortsgebundene Übertragungswege. Mensch-zu-Mensch-Übertragungen hingegen wurden bislang nicht beobachtet, auch wenn eine sichere Entwarnung angesichts des lückenhaften Wissensstandes nicht gegeben werden kann.
Die Symptome sind zunächst unspezifisch – Fieber, Kopfschmerzen, allgemeines Krankheitsgefühl –, bevor sich binnen kurzer Zeit dramatische neurologische Ausfälle entwickeln: Sprachstörungen, Desorientierung, Verhaltensänderungen bis hin zum Koma. Die Mortalitätsrate liegt bei nahezu 100 Prozent. Diagnostisch ist das Virus schwierig zu fassen. Serologische Tests sind unzuverlässig, der Goldstandard ist eine aufwändige PCR-Diagnostik aus Liquor oder Gewebeproben. Damit wird klar: Für präventiven Bevölkerungsschutz sind weder Teststrategie noch Frühwarnsystem derzeit geeignet. Noch alarmierender ist, dass es bislang keine kausale Therapie gibt – allenfalls experimentelle Ansätze zur symptomatischen Stabilisierung im Intensivbereich.
Seit 2020 ist die Infektion mit BoDV-1 meldepflichtig. Zwischen zwei und sechs Fälle pro Jahr verzeichnet das Robert Koch-Institut – die meisten davon in Bayern. Doch die Zahl sagt wenig über die Dunkelziffer, denn Enzephalitisfälle werden nicht routinemäßig auf Bornaviren getestet. Eine retrospektive Untersuchung von Enzephalitis-Todesfällen könnte Aufschluss bringen, wird aber bislang nur in wenigen Zentren systematisch betrieben. Was fehlt, ist ein koordiniertes Surveillance-System – und ein öffentlicher Diskurs, der die pathogenetische Relevanz des Virus ernst nimmt, ohne Panik zu schüren.
In der aktuellen Infektionssaison häufen sich nun wieder die Fälle. Dass zwei Patienten schwer erkrankt sind und ein dritter das Virus nicht überlebt hat, ist mehr als ein tragischer Zufall. Es ist ein epidemiologisches Warnsignal. Denn BoDV-1 ist kein saisonaler Atemwegserreger, sondern ein zoonotisches Nervengift – mit potenziell endemischem Charakter. Dass die meisten Infektionen in ländlichen Regionen auftreten, ist kein Zufall, sondern Ausdruck der ökologischen Nähe zum Reservoirtier. Das bedeutet aber auch: Schutz ist möglich, wenn Umweltkontakt, Hygienemaßnahmen und Tierbeobachtung systematisch umgesetzt werden.
Zu den wichtigsten Empfehlungen gehören: Kontakt mit Spitzmäusen – lebendig oder tot – nur mit Handschuhen, idealerweise unter Einsatz einer FFP2-Maske; Vermeidung ungeschützter Komposthaufen, keine Fütterung im Außenbereich, hygienische Aufbereitung von Igel-Futterstellen, sowie Meldung auffälliger Wildtiere an die zuständigen Veterinärämter. Der Schutz beginnt im Alltag – beim Müllsack, beim Handschuh, beim Blick für ungewöhnliches Tierverhalten.
Die Forschung steht derweil vor einer doppelt schwierigen Aufgabe: Sie muss einerseits die molekularbiologische Charakteristik des Virus entschlüsseln, um überhaupt einen Therapieansatz zu entwickeln. Andererseits sind klinische Studien angesichts der Seltenheit, Unvorhersehbarkeit und meist raschen Letalität kaum realisierbar. Die Komplexität erinnert an andere Zoonosen – etwa Hantaviren oder Leptospiren –, doch im Gegensatz zu diesen liegt beim Bornavirus bislang kein konsentierter Handlungsleitfaden vor.
Wissenschaftlich betrachtet dringt das BoDV-1 in einen besonders sensiblen Bereich ein: das zentrale Nervensystem. Es greift nicht nur die physischen Strukturen des Gehirns an, sondern beeinflusst auch Verhalten, Gedächtnis und Persönlichkeitsstruktur – eine virale Pathogenität, die in ihrer Tragweite erst langsam verstanden wird. Dass sich BoDV-1 im limbischen System anreichert und über das olfaktorische System ins Gehirn gelangt, macht seine Bekämpfung besonders schwer. Und so bleibt ein dunkler Fleck in der Landkarte der Virusforschung – bedrohlich nah, wissenschaftlich fern.
Dass nun erneut Menschen in Bayern betroffen sind, kann als Weckruf verstanden werden – für Politik, Forschung, Aufklärung und Vorsorge. Die notwendigen Schritte sind bekannt, die Mittel überschaubar: Schutzkleidung, Reinigungsmaßnahmen, Umweltbeobachtung. Was fehlt, ist die Aufmerksamkeit. Solange das Bornavirus als Kuriosität der Tiermedizin gehandelt wird, droht es, sich zu einem stillen Killer zu entwickeln – mitten in der Nachbarschaft, fern der Schlagzeilen.
Therapiesicherheit beginnt im Kopf, Diagnosetreue schützt vor Irrwegen, Beratungsqualität entscheidet im Alltag
Wie Nagelpilz zur Metapher für Irrtümer wird, Apotheken zwischen Baumarkt-Sprüchen und Fachberatung stehen und Dermatologinnen um Differenzierung ringen
Wenn eine Professorin für Dermatologie in einem Fortbildungsvortrag über Pilzinfektionen spricht und dabei sagt: „Manche kommen mit Baumarktmitteln gegen ihren Nagelpilz“, dann ist das zunächst ein unterhaltsamer Satz. Doch das Lachen, das auf dem Pharmacon-Kongress in Meran im Publikum folgt, verweist auf ein tieferliegendes Problem: Die Entkopplung von Beratung und Versorgung, von Wahrnehmung und medizinischer Realität. Prof. Dr. Julia Welzel, Direktorin der Klinik für Dermatologie am Universitätsklinikum Augsburg, nutzt die Bühne, um nicht nur über Dermatophytosen zu referieren, sondern über das Apothekenpersonal als erste Diagnoselinie – und deren Grenzen.
Nagelpilz, so viel ist klar, wird nicht durch falsche Nagellackfarben übertragen, sondern durch Hautkontakt, Mikrotraumen und feuchtwarme Milieus. Die verantwortlichen Erreger – meist Dermatophyten, seltener Hefen oder Schimmelpilze – infiltrieren die Nagelplatte oft schleichend, manchmal aggressiv. Doch was in der dermatologischen Fachliteratur differenziert besprochen wird, reduziert sich in der Laienwahrnehmung häufig auf ein optisches Problem oder – schlimmer noch – auf ein kosmetisches Ärgernis. Die Folge: Selbstmedikation mit Teebaumöl, Essig, Zinksalbe oder eben Baumarkt-Sprays, die „gegen alles“ helfen sollen, was stinkt, schimmelt oder verfärbt ist. Hier beginnt das Problem der Verkennung: Nagelpilz ist keine Bagatelle, sondern eine chronisch infektiöse Erkrankung mit medizinischer Relevanz und therapeutischer Beharrlichkeitspflicht.
In der Apotheke stehen Betroffene häufig mit dem einen Ziel: Eine schnelle Lösung finden. Die Beratung jedoch, so Welzel, müsse gerade bei Onychomykosen viel früher intervenieren und differenzieren: Ist es wirklich ein Pilz? Ist es ein Trauma? Eine Psoriasis? Eine bakterielle Superinfektion? Oder eine harmlose Melanonychie, die im ungünstigen Fall mit einem malignen Melanom verwechselt oder verwechselt wird? Die ärztliche Differenzialdiagnostik sei unerlässlich, und Apothekerinnen sollten nicht in das gefährliche Fahrwasser geraten, eine klare Diagnose zu suggerieren, wo nur Symptome beschrieben werden. Das sei keine Missachtung pharmazeutischer Kompetenz, sondern ein Appell zur professionsübergreifenden Kooperation.
Besonders brisant: Die Rate der Fehldiagnosen bei Nagelveränderungen liegt laut Studien im zweistelligen Bereich. Wer ohne Abstrich, ohne mykologische Diagnostik, allein anhand des optischen Eindrucks eine Antimykotikum-Empfehlung ausspricht, riskiert therapeutisches Scheitern und Vertrauensverlust. Genau hier trennt sich der sprichwörtliche Baumarkt von der qualifizierten Apotheke: Nicht das Angebot bestimmt den Wert, sondern die Anleitung, die kritische Einordnung, die Warnung vor falscher Sicherheit. Die Apotheke ist kein Diagnoseraum – aber sie ist ein Ort der Weichenstellung. Und das erfordert Präzision.
Gleichzeitig betont Welzel: Natürlich sei die Selbstmedikation in vielen Fällen möglich, sogar zielführend. Bei oberflächlichen Pilzinfektionen, bei unkomplizierten Tinea corporis oder interdigitale Mykosen – solange typische Verläufe vorliegen, sei der Einsatz von Antimykotika aus dem OTC-Sortiment legitim. Aber selbst hier gelte: Der Schlüssel liege in der Therapietreue, in der Anwendungskontinuität über mehrere Wochen bis Monate. Was hilft der beste Wirkstoff, wenn er nur vier Tage lang verwendet wird? Und was nützt die korrekt verabreichte Creme, wenn die Schuhe weiter als Erregerreservoir dienen? Beratung, so zeigt sich, ist nicht das Weitergeben von Produktinformation, sondern die Vermittlung eines pathogenetischen Verständnisses. Erst wenn Kundinnen und Kunden begreifen, dass Pilze Organismen mit Struktur und Überlebensstrategie sind, entsteht der Wille zur therapeutischen Konsequenz.
Wie aber kann die Apotheke ihren Platz in diesem Setting behaupten, zwischen Wunsch nach schneller Lösung, Zeitdruck und einem wachsenden Sortiment, das von Marketingstrategien dominiert wird? Welzel fordert hier eine systematische Stärkung der pharmazeutischen Beratung als Teil einer präventiv-medizinischen Struktur. Gerade in Zeiten, in denen Hautärztinnen in vielen Regionen über Monate hinweg ausgebucht sind, kommt der Apotheke eine Art Lückenfunktion zu – nicht im Sinne der Substitution, sondern als Filterinstanz, als Multiplikator medizinisch valider Warnsignale. „Es geht nicht darum, etwas nicht zu verkaufen“, so Welzel, „sondern darum, etwas richtig zu vermitteln – auch wenn die Antwort manchmal lautet: Gehen Sie bitte zum Arzt.“
Die Wirkung solcher Aussagen ist auch berufspolitisch relevant. In einem Gesundheitssystem, das auf interprofessionelle Zusammenarbeit angewiesen ist, zählt jede gut geführte Erstberatung. Sie kann das Behandlungsspektrum straffen, Folgefehler vermeiden, Ressourcen entlasten. Umgekehrt gilt: Eine vermeintlich harmlose Empfehlung – etwa ein Antipilz-Lack ohne Diagnose – kann die notwendige ärztliche Behandlung um Monate verzögern. Die Grenze zwischen Hilfe und Hinderung ist schmal.
Ein weiterer Punkt ihres Vortrags: die wachsende Zahl nicht klassischer Hautinfektionen, die durch verändertes Freizeitverhalten, internationale Reisen oder Immunschwächung an Bedeutung gewinnen. Tinea incognito, Pityriasis versicolor oder Candida-Intertrigo – auch diese Diagnosen sind beratungsrelevant, aber oft nur schwer durch Laien zu differenzieren. Welzels Fazit: Wenn das Beratungsgespräch an der Tara mit „Ist das Pilz?“ beginnt, darf es nicht mit einem Produktvorschlag enden – sondern mit einem Mini-Diagnostik-Parcours im Kopf der beratenden Person. Dermatologie in der Offizin heißt: Kontextverstehen, Therapiedauer vermitteln, Indikationsgrenzen ernst nehmen – und notfalls: Raten, den Arzt zu konsultieren.
Und was bleibt vom Baumarkt-Bild? Es ist mehr als eine Anekdote. Es ist der Spiegel eines Marktversagens, wenn Gesundheitsprobleme in dieselbe Assoziationskette geraten wie Schimmelschutz für den Keller. Umso wichtiger ist es, dass Apotheken ihren Platz als medizinisch beratende Instanzen gegen billige Vereinfachungen behaupten. Denn wer sich der Ernsthaftigkeit von Nagelpilz entzieht, verkennt nicht nur eine Erkrankung – er verspielt auch Vertrauen in ein Versorgungssystem, das auf klare Rollenverteilungen angewiesen ist.
Hitze wird Normalität, Gesundheit wird Risiko, Klimapolitik wird Überlebensfrage
Wie die Klimakrise die Zahl extremer Hitzetage in Deutschland verdoppelt, vulnerable Gruppen zunehmend gefährdet und strukturelle Versäumnisse zur tödlichen Konstante machen
Hitze ist längst kein Wetterphänomen mehr, sondern eine systemisch verankerte Realität – und eine politische Zumutung. Deutschland hat in den vergangenen zwölf Monaten 50 Tage mit extremer Hitze erlebt, die so ohne den menschengemachten Klimawandel nicht eingetreten wären. Rund die Hälfte davon, also 24 Tage, gehen laut einer aktuellen Auswertung direkt auf das Konto der globalen Erwärmung. Die Zahlen stammen aus einer internationalen Datenanalyse der Organisationen Climate Central und World Weather Attribution, in der der vergangene Jahreszeitraum von Mai 2024 bis Mai 2025 systematisch auf die Häufung extremer Hitzetage hin untersucht wurde. Definiert sind diese als Tage, an denen die Temperatur mindestens 90 Prozent der lokalen historischen Maximalwerte zwischen 1991 und 2020 übersteigt. Die Aussagekraft dieser Schwelle ist klar: Wo früher ein Ausnahmezustand war, ist heute Alltag. Doch die gesellschaftlichen, medizinischen und politischen Systeme reagieren weiter mit zögerlicher Schockstarre, obwohl die Evidenzlage keinen Zweifel mehr zulässt.
Was die Zahlen konkret bedeuten, illustriert sich nicht nur in der Statistik, sondern vor allem im Alltag der Menschen – und in der Sterblichkeit. Für die Jahre 2023 und 2024 verzeichnete das Robert-Koch-Institut jeweils rund 3000 hitzebedingte Todesfälle allein in Deutschland. Die Opfer sind nicht zufällig verteilt. Besonders gefährdet sind ältere Menschen, chronisch Kranke, Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder. Diese Gruppen stehen exemplarisch für eine Gesellschaft, deren thermophysiologische Belastungsgrenzen zunehmend mit den politischen Versäumnissen kollidieren. Hitzewellen treffen nicht nur individuelle Organismen, sondern ganze Versorgungssysteme, Stadtplanungen, Pflegeeinrichtungen und Infrastrukturen, die vielfach noch immer auf ein Klima der Vergangenheit ausgerichtet sind.
Hinzu kommt die strukturelle Blindstelle der politischen Steuerung. Während die öffentliche Debatte sich regelmäßig in CO₂-Bepreisung, Wärmewende und Solarpflicht erschöpft, fehlt es an klaren, flächendeckenden und gesetzlich abgesicherten Hitzeschutzstrategien. Das betrifft Städtebau, Gebäudekühlung, Warnsysteme, Pflegeabläufe, Arbeitszeitmodelle und medizinische Notfallpläne. Die Bundesärztekammer fordert seit Jahren eine konsequente Hitzeschutzpolitik – passiert ist wenig. Die Zahl der Kliniken, die auf wiederkehrende Hitzephasen vorbereitet sind, bleibt unklar. Apotheken als niedrigschwellige Gesundheitseinrichtungen haben in weiten Teilen weder personelle Ressourcen noch infrastrukturelle Vorkehrungen, um vulnerable Patientengruppen gezielt zu unterstützen. Dabei wäre ihre Rolle als Informations- und Präventionsstelle essenziell.
International zeigt die Lage eine klare Eskalationsdynamik. In 195 von 247 ausgewerteten Ländern und Regionen hat sich die Zahl der Hitzetage durch den Klimawandel mindestens verdoppelt. Vier Milliarden Menschen weltweit erlebten im gleichen Zeitraum mindestens 30 zusätzliche heiße Tage, die nachweislich durch die Erderwärmung bedingt waren. Der europäische Höchstwert fand sich in einer Hitzewelle im Juni 2024, die sich von Griechenland über Rumänien bis nach Asien und den Nahen Osten zog. Die Geografie des Klimawandels folgt keiner Gerechtigkeit. Besonders betroffen sind Regionen, die gleichzeitig über die geringsten Ressourcen zur Bewältigung verfügen.
Die Analyse der deutschen Klimaforscherin Friederike Otto, die das Netzwerk World Weather Attribution mitbegründet hat, ist deshalb nicht nur wissenschaftlich, sondern explizit politisch zu lesen. Ihre Warnung ist unmissverständlich: „Der Klimawandel ist da, und er tötet.“ Otto fordert nichts weniger als eine radikale Umsteuerung der Energiesysteme, eine Abkehr von fossilen Brennstoffen und die aktive Förderung einer gerechteren und widerstandsfähigeren Gesellschaft. Dass das technisch möglich ist, steht außer Frage. Dass es politisch gewollt ist, darf bezweifelt werden.
Der Klimawandel wird auch in den kommenden Jahren kein Ereignis mehr sein, auf das sich rückblickend reagieren lässt. Er ist Gegenwart, deren Dynamik in Echtzeit greift. Die Wissenschaft liefert Werkzeuge, Szenarien und Kausalitätsnachweise. Doch wenn politische Entscheidungsträger diese Daten nicht ernst nehmen oder ihre Implikationen weiterhin weichzeichnen, entsteht aus Hitze ein Zustand struktureller Fahrlässigkeit. Die Frage ist längst nicht mehr, ob die Zahl der Hitzetage weiter steigen wird, sondern wie viele davon wir hätten verhindern können – wenn wir rechtzeitig gehandelt hätten.
Sport stärkt Therapie, moduliert Tumorverhalten, schützt Behandlungsverlauf
Warum gezielte Bewegung die Chemowirkung verbessert, Tumorzellantworten beeinflusst und Therapieabbrüche verringert
Der historische Irrtum, Krebspatientinnen und -patienten körperliche Schonung zu empfehlen, ist längst wissenschaftlich entkräftet – doch die praktische Relevanz dieser Erkenntnis wird erst nach und nach systematisch erschlossen. Die Heidelberger BENEFIT-Studie, koordiniert durch das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ), das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) und das Universitätsklinikum Heidelberg, liefert nun einen präzise dokumentierten Beleg dafür, wie Bewegung gezielt während einer neoadjuvanten Chemotherapie den therapeutischen Verlauf beeinflusst – und zwar differenziert nach Tumortypus, körperlicher Belastbarkeit und Compliance der Patientinnen. Die Ergebnisse zeigen nicht nur Vorteile im Hinblick auf Fitness und subjektives Wohlbefinden, sondern dokumentieren auch eine biologische Modulation des Tumorverhaltens und eine signifikante Senkung therapiebedingter Abbruchquoten. Damit greift Sport nicht nur in die peripheren, sondern auch in die zentralen Achsen der onkologischen Behandlung ein.
Unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Martina Schmidt verfolgte die randomisierte BENEFIT-Studie ein pragmatisches Ziel: 180 Patientinnen mit nicht metastasiertem Brustkrebs wurden unterschiedlichen Trainingsprotokollen unterzogen – Krafttraining, Ausdauertraining oder als Kontrollgruppe ein späteres Krafttraining nach abgeschlossener Chemotherapie. Der primäre Endpunkt war klassisch klinisch definiert: die Veränderung der Tumorgröße während der Chemotherapie. Zunächst ergab sich in der Gesamtheit kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen. Doch die differenzierte Analyse offenbart einen weitaus präziseren Effekt – eine Wirksamkeit, die nicht auf den ersten Blick messbar, aber biologisch relevant ist: Bei hormonrezeptor-positiven Tumoren war das Training signifikant mit einer stärkeren Tumorverkleinerung verbunden. Und mehr noch: In dieser Subgruppe kam es häufiger zu einer kompletten pathologischen Remission, also einem vollständigen Verschwinden des Tumors unter Chemotherapie.
Parallel zeigte sich bei den Patientinnen mit Hormonrezeptor-negativen Tumoren, dass sportlich aktive Frauen die Chemotherapie signifikant seltener abbrechen mussten – ein besonders relevanter Aspekt in der Realität der onkologischen Versorgung, in der Nebenwirkungen, Erschöpfung und psychische Belastungen häufig die Fortsetzung der Behandlung gefährden. Sport wirkte hier offenbar stabilisierend, nicht als konkurrierende, sondern als stützende Maßnahme. Ein gezielter Trainingsplan verminderte Abbruchquoten, stärkte die Resilienz – und machte den Unterschied zwischen idealer Dosis und abgebrochener Behandlung.
Bemerkenswert ist, dass der Bewegungseffekt nicht auf eine bestimmte Trainingsform beschränkt war. Sowohl Kraft- als auch Ausdauertraining erzielten günstige Resultate – was auf eine übergreifende Wirkung hinweist, möglicherweise hormonell, entzündungsmodulierend oder immunologisch vermittelt. Derzeit laufende Analysen von Blutproben aus der BENEFIT-Kohorte sollen klären, ob beispielsweise Veränderungen in Zytokinprofilen, Immunzellpopulationen oder metabolischen Parametern die trainingsbedingten Unterschiede erklären können. Auch epigenetische Effekte – etwa auf tumorassoziierte Gene – sind nicht auszuschließen. Die Forschenden setzen dabei auf eine systemische Lesart: Sport ist kein Add-on, sondern integraler Teil einer biologisch verstandenen Therapiearchitektur.
Die Studienlage untermauert diese Perspektive: Schon frühere Arbeiten aus Dänemark, Kanada und den USA zeigten, dass körperliche Aktivität bei Krebspatientinnen nicht nur Lebensqualität verbessert, sondern auch Rezidivraten senken und Überlebenszeiten verlängern kann. Die Heidelberger Studie differenziert diesen Befund nun weiter aus – sie zeigt, dass das therapeutische Zeitfenster selbst, also die Phase aktiver Chemotherapie, nicht als Schonphase, sondern als Interventionsphase für Bewegung nutzbar ist. Das bedeutet auch: Onkologisches Personal, Pflegekräfte und Sporttherapeut:innen müssen enger zusammenarbeiten, um Bewegungsinterventionen medizinisch zu begleiten und optimal zu timen.
Doch die strukturellen Hürden sind hoch. Noch immer ist Bewegung in der Krebsbehandlung kein regulärer Leistungsbestandteil der GKV. Rehabilitative Sportangebote beginnen oft erst nach Abschluss der Therapie, während die physiologische Chance der unmittelbaren Intervention während der Chemotherapie ungenutzt bleibt. Die Studie liefert nun ein Argumentationsfundament, diesen Systemfehler zu korrigieren – und Bewegung nicht als nachgelagerte, sondern als begleitende Therapieform zu etablieren.
Dazu gehört auch ein Umdenken in der onkologischen Gesprächsführung. Patientinnen müssen ermutigt werden, im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv zu bleiben – aber auch strukturell befähigt werden. Nicht jede Betroffene kann sich ein Personal Training leisten oder in ein spezialisiertes Rehazentrum gehen. Hier wären niedrigschwellige, digital unterstützte Bewegungsprogramme denkbar, die auf Studienprotokollen wie BENEFIT basieren und auch zu Hause oder in Selbsthilfegruppen durchführbar sind. Die Integration solcher Programme in die Regelversorgung wäre ein systemischer Fortschritt mit hohem Evidenzpotenzial.
Inmitten zunehmender Diskussionen über Therapiekosten, Behandlungsqualität und Lebensqualität von Patient:innen liefert die Heidelberger Studie ein Paradebeispiel für eine Maßnahme, die kostengünstig, risikoarm und hochwirksam ist – und dennoch bislang strukturell vernachlässigt wird. Sport wirkt nicht nur auf den Körper, sondern auf die Therapietreue, auf die Tumorbiologie und auf die Systemeffizienz der Onkologie insgesamt. Wer das ignoriert, riskiert nicht nur medizinisches Potenzial, sondern versäumt einen Paradigmenwechsel, der längst überfällig ist.
Fettmasse reduzieren, Muskelkraft erhalten, Therapie neu denken
Warum Abnehmen ohne Substanzverlust selten gelingt, wie Medikamente, Sport und Ernährung gezielt kombiniert werden müssen und welche Rolle Muskelmasse für die metabolische Gesundheit spielt
Die Vorstellung, mit einer klassischen Diät gezielt nur Fettmasse zu verlieren, ohne Muskelmasse einzubüßen, ist so verbreitet wie irrig. Moderne Erkenntnisse aus der Adipositasforschung zeigen eindrücklich, dass jede Form der Gewichtsreduktion einen Preis hat – und dieser Preis ist häufig der Verlust an Muskel- und Bindegewebe. Ein gesundheitspolitisches, therapeutisches und gesellschaftliches Umdenken ist notwendig, denn nicht das Gewicht allein, sondern die Zusammensetzung des Körpers entscheidet über langfristige Gesundheit. Was einst unter dem Schlagwort „Abnehmen“ firmierte, braucht heute einen differenzierten Blick auf Fettverteilung, Muskelstruktur, metabolische Balance und individuelle Risikoprofile.
Professor Dr. Matthias Blüher, einer der führenden Metabolismusforscher Deutschlands, formulierte es beim Diabeteskongress in Berlin zugespitzt: Entscheidend ist nicht, wie viel Fett man hat, sondern wo es sitzt – und wie viel Muskelmasse noch da ist. Menschen mit einem erhöhten Body-Mass-Index (BMI) können durchaus gesund sein, wenn sich ihr Körperfett vorwiegend subkutan, also unter der Haut an Hüfte, Gesäß und Oberschenkeln ablagert. Die metabolische Gefahr geht vom viszeralen Fett aus – also jenem Depot rund um die inneren Organe, das entzündungsfördernde Botenstoffe produziert und mit zahlreichen chronischen Erkrankungen in Verbindung steht. Paradoxerweise haben Patienten mit Lipodystrophie trotz Normalgewicht oft eine drastisch verschlechterte Insulinsensitivität, weil ihr Körper keine funktionalen Fettdepots hat – und Energie ungefiltert ins Risiko schiebt.
Mit dieser Differenzierung geht auch eine neue Definition von Adipositas einher, die von einer internationalen Expertenkommission im Fachblatt The Lancet vorgeschlagen wurde. Die reine BMI-Betrachtung reicht nicht mehr aus. Entscheidend ist eine integrierte Bewertung von Fettverteilung, Muskelanteil und Krankheitslast. Damit rückt ein bislang vernachlässigter Aspekt ins Zentrum der Therapie: die qualitative Körperzusammensetzung. Ein Gewichtsverlust um jeden Preis, wie er in Realityshows propagiert wird, führt zu metabolischem Chaos. Blüher nennt das Beispiel der Show The Biggest Loser, in der Teilnehmer zwar kurzfristig massive Gewichtseinbußen verzeichneten, langfristig jedoch durch den drastischen Abfall des Grundumsatzes in eine dauerhafte Jojo-Falle gerieten.
Dass Muskelmasseverlust fast zwangsläufig Teil jeder Gewichtsreduktion ist, belegen aktuelle Studien deutlich. Selbst unter Therapie mit GLP-1-Rezeptoragonisten wie Liraglutid oder Tirzepatid bleibt der Verlust an fettfreier Masse signifikant – etwa ein Viertel bis zur Hälfte der Gesamtgewichtsabnahme geht nicht auf Fett, sondern auf Muskeln und Bindegewebe zurück. Noch ungünstiger fällt die Bilanz bei verschiedenen Formen des Intervallfastens aus, bei denen laut britischen Untersuchungen fast die Hälfte des verlorenen Gewichts aus Magermasse bestand.
Das Problem liegt tiefer: Der Körper reagiert auf Kalorienmangel nicht nur mit Fettabbau, sondern reduziert systemisch alle energieverbrauchenden Gewebe – also auch Muskeln. Dadurch sinkt der Grundumsatz, das Kaloriendefizit schrumpft, und jede weitere Gewichtsabnahme wird schwieriger. Ohne gezielte Gegensteuerung durch Bewegung und gezielte Proteinversorgung verliert der Patient das, was ihn eigentlich schützt – Muskelkraft, metabolische Stabilität und Belastbarkeit.
Doch es gibt Wege, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Multimodale Konzepte, die Bewegung, Ernährung und medikamentöse Unterstützung kombinieren, zeigen vielversprechende Ergebnisse. Blüher stellte eine Vergleichsstudie vor, in der Teilnehmer durch reines Training, durch Liraglutid oder durch eine Kombination aus beidem Gewicht verlieren sollten. Während die Sportgruppe weniger Gewicht verlor, war ihre Körperzusammensetzung deutlich günstiger: Sie behielten mehr Muskelmasse. Die Kombination aus Sport und Inkretin führte zum stärksten Fettverlust bei gleichzeitigem Muskelerhalt – ein therapeutischer Idealzustand.
Dabei ist das Bewegungsprogramm nicht beliebig. Die Leitlinien fordern fünfmal wöchentlich eine Stunde moderates bis intensives Training, das sowohl Ausdauer als auch Koordination verbessert. Ergänzend spielt der Proteingehalt der Ernährung eine entscheidende Rolle. Zwar empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) nur 0,8 g Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag, doch Studien deuten darauf hin, dass Diätpatienten von höheren Mengen profitieren. In einer US-amerikanischen Untersuchung verloren Teilnehmer unter hypokalorischer Diät bei höherem Proteinkonsum zwar nicht mehr Gewicht, aber sie hielten signifikant mehr fettfreie Masse.
Neben Training und Ernährung rückt nun auch die Pharmakologie näher an die Muskelzelle. Der monoklonale Antikörper Bimagrumab, ursprünglich zur Behandlung seltener Muskeldystrophien entwickelt, zeigt in der Adipositastherapie bemerkenswerte Effekte. Er blockiert den Activin-Typ-II-Rezeptor, einen Gegenspieler des Muskelwachstums, und ermöglicht so einen gleichzeitigen Fettabbau und Muskelzuwachs – ein bislang unerreichtes Therapieziel. In einer Phase-II-Studie mit adipösen Typ-2-Diabetikern reduzierte sich die Körperfettmasse um über 20 Prozent, während die fettfreie Masse stieg – bei gleichzeitig besserer Insulinsensitivität.
Auch andere Firmen entwickeln Substanzen, die gezielt Muskelabbau verhindern und sich als Kombinationspartner für moderne Inkretine wie Tirzepatid oder Semaglutid eignen. Damit könnte ein neues Zeitalter der Adipositasbehandlung beginnen, in dem nicht das Gewicht, sondern die Qualität des Körpers entscheidet. Therapieziel wäre dann nicht die niedrigste Zahl auf der Waage, sondern ein robustes, funktionsfähiges Gewebeprofil.
Der gesellschaftliche Diskurs über Körpergewicht, Diäten und Idealfiguren hinkt dieser medizinischen Komplexität weit hinterher. Die Fixierung auf Kilogramm, BMI oder „Vorher-nachher“-Transformationen in sozialen Medien verkennt, dass erfolgreiche Gewichtsreduktion keine kosmetische Operation ist, sondern eine langfristige, systemische Umstrukturierung des Körpers. Diese gelingt nicht durch Willenskraft oder Verzicht allein – sondern nur mit individueller, wissenschaftlich fundierter Steuerung, therapeutischer Präzision und politischer Unterstützung. Ein Gewichtsverlust, der die Substanz des Menschen wahrt, ist möglich – aber nur, wenn man aufhört, allein das Fett zu jagen.
Von Engin Günder, Fachjournalist
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