• 14.05.2025 – Apotheken-Nachrichten von heute - Update: Apotheken zwischen Finanzdruck, Gewalt und Strukturversagen

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Apotheken-Nachrichten von heute - Update: Apotheken zwischen Finanzdruck, Gewalt und Strukturversagen

 

Die Ereignisse verdichten sich zu einem symptomatischen Gesamtbild der Systemkrise

Die Apothekenlandschaft in Deutschland gerät an mehreren Stellen gleichzeitig ins Wanken. In Schleswig-Holstein musste das berufsständische Versorgungswerk 33 Millionen Euro abschreiben, eine Nachricht, die das Vertrauen in die Altersvorsorge erschüttert und Apothekenbetreiber zur Neuausrichtung zwingt. Parallel dazu sinkt die Liquidität der gesetzlichen Krankenversicherung unter die vorgeschriebene Mindestgrenze, sodass der Bund nun vorzeitig 800 Millionen Euro zuschießen muss – ein Warnsignal für eine chronisch unterfinanzierte Solidargemeinschaft. Die neue Gesundheitsministerin spricht offen von einem "System in tiefroten Zahlen". Und während die große Strukturreform erneut vertagt wird, offenbart die Justiz neue Brücken in der Integrität: Zwei Betreiber von Testzentren sollen systematisch Leistungen abgerechnet haben, die nie erbracht wurden. Der Schaden: 367.000 Euro. Das Vertrauen in Verwaltung, Selbstverwaltung und Rechtssystem gerät ins Rutschen. Apotheken, die sich angesichts überbordender Notdienste und schwindender Versicherungssicherheit ohnehin aufreiben, sehen sich nun nicht nur wirtschaftlich, sondern auch strukturell im Stich gelassen. Die gesellschaftliche wie finanzielle Funktion der Offizin wird dadurch zunehmend zur Dauerbelastung. Es zeigt sich ein System, das nicht mehr reformierbar scheint, sondern auf Kante genäht ist.

 

Versorgungswerk schreibt 33 Millionen Euro ab, Apothekenfinanzen unter Druck

Frühzeitige Warnung aus Schleswig-Holstein zwingt Apothekenbetreiber zur strategischen Neuausrichtung

Das Versorgungswerk der Apothekerkammer Schleswig-Holstein hat erneut einen empfindlichen finanziellen Rückschlag zu verkraften. Wie die Kammer nun überraschend frühzeitig mitteilte, beläuft sich die diesjährige Abschreibung auf rund 33 Millionen Euro – eine Summe, die nicht nur betriebswirtschaftlich nachwirkt, sondern weitreichende Konsequenzen für das Vertrauen der Mitglieder und die Stabilität des berufsständischen Versorgungsmodells haben dürfte. Erstmals informiert das Versorgungswerk bereits zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt über den Vorgang, was als Reaktion auf Kritik an der späten Kommunikation im Vorjahr gewertet werden kann. Dennoch bleibt die grundsätzliche Problematik bestehen: Apothekerinnen und Apotheker müssen sich erneut mit der Realität sinkender Rücklagen und möglicher Risiken für ihre Altersversorgung auseinandersetzen.

Der Hintergrund der Abschreibung liegt laut Kammer in der anhaltenden Korrektur der Kapitalmärkte. Steigende Zinsen, volatile Börsenbewegungen, veränderte Bewertungsmethoden – all dies setze das Anlagevermögen des Versorgungswerks unter Druck. Welche Anlageklassen konkret betroffen sind, bleibt bislang unklar. Auch ob es sich um Buchverluste oder bereits realisierte Verluste handelt, lässt die Mitteilung offen. Klar ist aber: Es handelt sich nicht um ein einmaliges Ereignis, sondern um ein strukturelles Symptom eines Systems, das zunehmend ins Wanken gerät.

Mitglieder des Versorgungswerks zahlen verpflichtend in die Einrichtung ein. Die Versorgung soll ihnen im Alter eine standesgemäße Rente sichern – solide kalkuliert, langfristig stabil. Dieses Versprechen gerät durch die aktuellen Zahlen in ein anderes Licht. Denn wer 33 Millionen Euro abschreiben muss, verliert nicht nur Erträge, sondern reduziert aktiv das bestehende Kapitalpolster. Das Verhältnis von eingezahltem Beitrag und erwarteter Leistung verschiebt sich – zu Lasten der Versicherten.

Während Kammerpräsident Dr. Kai Christiansen betont, man habe weiterhin eine solide Reserve und sei auf Krisen vorbereitet, stellen sich für viele Mitglieder grundlegende Fragen. Wie krisenfest ist das Modell wirklich? Ist die Portfoliostrategie des Versorgungswerks noch zeitgemäß? Und wie transparent wird intern über Risikoverteilung, Verlustabsicherung und Reaktionsmechanismen diskutiert? Der Druck zur Reform wächst, doch konkrete Strukturveränderungen werden bislang nicht öffentlich gemacht.

Für Apothekeninhaber, die gleichzeitig Unternehmer und Pflichtversicherte sind, ergibt sich eine doppelte Betroffenheit. Zum einen stellt sich die Frage, ob sie ihre betriebliche Planung – etwa die Rücklagenbildung für Alter und Krankheit – neu ausrichten müssen. Zum anderen müssen sie bewerten, inwieweit das Versorgungswerk als zentrale Säule ihrer Altersvorsorge weiterhin belastbar ist. Angesichts wirtschaftlicher Unsicherheit im Apothekenmarkt, stagnierender Honorare, wachsender Bürokratiebelastung und inflationsbedingter Ausgabenzunahmen ist der Rückhalt durch ein stabiles Versorgungssystem wichtiger denn je. Fällt dieser Rückhalt weg oder wird er als unsicher empfunden, entsteht eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung, die sich schnell in betriebliche Entscheidungen übersetzen kann – von der Investitionszurückhaltung bis zur Aufgabe von Filialen oder Standorten.

Besonders sensibel ist die Frage, wie das Versorgungswerk mit dem Thema Kommunikation und Rechenschaft umgeht. Dass die diesjährige Abschreibung offen kommuniziert wird, ist ein Fortschritt – aber kein Beweis für eine nachhaltige Transparenzkultur. Noch immer fehlt eine detaillierte Aufschlüsselung der betroffenen Anlageklassen. Noch immer ist nicht klar, ob interne Kontrollmechanismen bei der Portfoliosteuerung verbessert wurden. Noch immer sind keine unabhängigen Bewertungen der Anlagepolitik bekannt. Kurz: Es gibt Hinweise auf ein Problembewusstsein – aber keine sichtbare Strategie zur strukturellen Absicherung.

Auch das Verhältnis zur Politik ist in diesem Kontext von Bedeutung. Während Bundes- und Landespolitik die Versorgungsstrukturen der freien Berufe öffentlich oft loben, bleibt die regulatorische Kontrolle weitgehend in der Selbstverwaltung. In guten Zeiten ist das ein Vorteil – in Krisenzeiten kann es zum blinden Fleck werden. Ohne externen Druck bleiben viele Einrichtungen bei bekannten Modellen, auch wenn diese den neuen Realitäten nicht mehr gerecht werden. Es ist daher nicht nur Aufgabe der Kammer, sondern auch der Aufsichtsbehörden, für stärkere Sicherungsnetze und realistische Bewertungen zu sorgen.

Dass Apothekerinnen und Apotheker mittlerweile auch auf alternative Modelle setzen – etwa auf ergänzende private Altersvorsorge, Immobilien oder Fondsanlagen – ist eine stille Reaktion auf die wachsenden Zweifel. Doch diese Diversifikation bleibt eine individuelle Option. Das System selbst muss sich strukturell anpassen, wenn es wieder Vertrauen gewinnen will. Der Fall Schleswig-Holstein ist damit nicht nur ein regionaler Vorfall, sondern ein Weckruf für alle berufsständischen Versorgungseinrichtungen in Deutschland.

Die jüngste Abschreibung des Versorgungswerks der Apothekerkammer Schleswig-Holstein ist ein Paradebeispiel für ein systemisches Problem, das sich nicht länger verdrängen lässt. Was wie eine nüchterne Zahl daherkommt – 33 Millionen Euro – ist in Wahrheit eine stille Erschütterung im Fundament des berufsständischen Sicherungssystems. Der Vorgang steht exemplarisch für eine gefährliche Kombination aus struktureller Trägheit, unternehmerischer Selbsttäuschung und fehlender regulatorischer Innovation. Er offenbart, wie fragil die Mechanismen geworden sind, auf die sich Tausende Apothekerinnen und Apotheker bei ihrer Lebensplanung verlassen.

Einmal mehr zeigt sich, dass der Anspruch auf Sicherheit durch Standesversorgung ein Mythos ist, wenn dieser Anspruch nicht durch belastbare Strukturen, transparente Kommunikation und zeitgemäße Risikomodelle gestützt wird. Die Tatsache, dass Mitglieder nun früher informiert wurden, ist zwar ein Fortschritt – doch sie ändert nichts daran, dass das Problem zu spät erkannt, zu schwach analysiert und zu zögerlich angegangen wurde. Es ist bezeichnend, dass weiterhin unklar bleibt, wo genau die Verluste entstanden sind. Eine Offenlegung der Verlustquellen und der konkreten Maßnahmen zur Stabilisierung bleibt aus – was übrig bleibt, ist die Hoffnung auf Beruhigung durch Führungspersonal.

Doch Hoffnung ist keine Strategie. Die Apothekenlandschaft selbst befindet sich in einem Zustand erhöhter Unsicherheit – politisch, wirtschaftlich, personell. Wenn nun auch die Altersvorsorge über das Versorgungswerk ins Wanken gerät, entsteht eine neue Form der Bedrohung: die schleichende Destabilisierung des beruflichen Lebensplans. Wer heute investiert, plant oder expandiert, tut dies nicht mehr auf einem festen Boden. Die vermeintliche Sicherheit durch Standeszugehörigkeit erweist sich als Illusion.

Es stellt sich daher die Frage, ob die Versorgungswerke noch zeitgemäße Instrumente für Altersabsicherung sind – oder ob sie vielmehr durch ihre Intransparenz und ihre strukturelle Starrheit selbst Teil des Problems geworden sind. Wer Milliarden verwaltet, muss auch Milliardenverantwortung tragen – öffentlich, nachvollziehbar, überprüfbar. Der Reflex, sich hinter professionellen Bewertungen oder abstrakten Marktbewegungen zu verstecken, zeigt, dass die Selbstverwaltung an ihre Grenzen stößt. Eine umfassende Reform ist überfällig – sowohl in der Kapitalsteuerung als auch im Governance-Verständnis.

Für Apothekenbetreiber lautet die Lehre: Nicht mehr blind vertrauen, sondern doppelt absichern. Eine professionelle Finanzstrategie darf sich nicht auf das Pflichtsystem beschränken, sondern muss diversifiziert, belastbar und rechtsfest sein. Dabei geht es nicht nur um Rendite – sondern um Planbarkeit, Liquidität und Schutz vor Überraschungen. Die Zeit der einfachen Gewissheiten ist vorbei. Wer die Verantwortung für ein Apothekenunternehmen trägt, muss auch die individuelle Absicherung seiner Zukunft aktiv gestalten – jenseits der Hoffnung auf stille Sanierungen in Kammergremien.

Die 33 Millionen Euro sind nicht verloren – sie sind bezahlt worden. Von den Beitragszahlern, von den Berufsträgern, von jenen, die sich auf ein System verlassen haben. Die Rückgewinnung dieses Vertrauens wird mehr kosten als Geld.

 

Geldreserve unterschritten, Milliardenlücke droht, Reformgipfel vertagt

Die Liquidität der GKV sinkt unter die Pflichtmarke, doch statt Lösungen kommt nur ein Zuschuss – während die Reformkommission bis 2027 plant.

Die Liquiditätsreserve der gesetzlichen Krankenversicherung hat ihre gesetzliche Untergrenze unterschritten. Um die Zahlungsfähigkeit der Krankenkassen zu sichern, zieht der Bund nun 800 Millionen Euro aus dem regulären Bundeszuschuss vor – eine Maßnahme, die verdeutlicht, wie angespannt die finanzielle Lage im System der gesetzlichen Krankenversicherung tatsächlich ist. Die neue CDU-Gesundheitsministerin Nina Warken bezeichnet die Situation als ernsten Warnschuss. „Ich übernehme ein System in tiefroten Zahlen“, sagte sie gegenüber dem Handelsblatt. Die Überschreitung der kritischen Schwelle sei ein unübersehbares Signal für politische Versäumnisse der vergangenen Jahre.

Der Gesundheitsfonds, der als zentrale Sammelstelle für die Beiträge aller gesetzlich Versicherten dient, soll durch den vorgezogenen Zuschuss wieder auf ein Mindestniveau gebracht werden. Dieses liegt laut gesetzlicher Vorgabe bei mindestens 20 Prozent einer durchschnittlichen Monatsausgabe. Der Fonds hatte diese Marke laut Informationen aus Regierungskreisen in den vergangenen Tagen unterschritten. Der jetzt freigegebene Betrag stammt aus dem regulären Jahreszuschuss von insgesamt 14,5 Milliarden Euro. Die Maßnahme erfolgte im Einvernehmen zwischen Gesundheits- und Finanzministerium und ist nicht etwa eine zusätzliche Zahlung, sondern eine Vorverlegung bereits geplanter Mittel. Dennoch ist sie ein deutliches Indiz dafür, dass das System aktuell auf Kante genäht operiert.

Die Unterfinanzierung des GKV-Systems ist kein neues Phänomen, doch die Situation verschärft sich. Schon das Haushaltsjahr 2023 hatte mit einem Defizit von 6,2 Milliarden Euro abgeschlossen. Die Folge war eine weitere Erhöhung der Zusatzbeiträge zu Jahresbeginn, die viele Versicherte spürbar belastete. Zugleich wachsen die Zweifel daran, ob sich dieses Modell in Zeiten zunehmender Kostensteigerungen und demografischem Wandel dauerhaft aufrechterhalten lässt. Bereits jetzt warnen Fachleute davor, dass es im Sommer zu einer weiteren Beitragsrunde kommen könnte – ein Szenario, das politisch höchst unwillkommen wäre.

In der neuen Bundesregierung ist die Zuständigkeit für die Finanzsicherung des Gesundheitssystems zur Chefsache geworden. Zwar enthält der Koalitionsvertrag von Union und SPD eine Absichtserklärung zur Stabilisierung der GKV-Finanzen, doch die operativen Maßnahmen lassen auf sich warten. Die Einsetzung einer Reformkommission wurde beschlossen, aber deren Ergebnisse sollen frühestens im Frühjahr 2027 vorliegen. Das bedeutet faktisch: Keine strukturellen Antworten vor der nächsten Bundestagswahl. Diese Verzögerung stößt parteiübergreifend auf Kritik.

Besonders deutlich äußerte sich die Grünen-Gesundheitspolitikerin Paula Piechotta. Sie sprach von einer „Notoperation am offenen Herzen der GKV“ und kritisierte, dass anstelle einer systemischen Reform erneut nur ein kurzfristiger Notzuschuss beschlossen wurde. Der Eindruck sei fatal: Die neue Ministerin trete ihr Amt mit einem Liquiditätsengpass an und vertage gleichzeitig alle grundlegenden Entscheidungen. Piechotta forderte CDU-Chef Friedrich Merz dazu auf, die GKV-Reform zur persönlichen Priorität zu machen, wenn weitere Beitragserhöhungen noch verhindert werden sollen.

Auch aus den Ländern kommt Druck. Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach begrüßte zwar den vorgezogenen Zuschuss, mahnte jedoch sofortiges Handeln an. Ihrer Einschätzung nach müssten deutlich höhere Bundeszuschüsse für versicherungsfremde Leistungen bereitgestellt werden. Es sei untragbar, dass die GKV seit Jahren Aufgaben der Gesellschaft finanziere, für die eigentlich der Staat aufkommen müsse – etwa bei der Mitversicherung von Familienmitgliedern oder der gesundheitlichen Versorgung von ALG-II-Empfängern.

Zudem stellt sich zunehmend die Frage, ob die Struktur des Gesundheitsfonds und seine Liquiditätsanforderungen überhaupt noch den Herausforderungen des Jahres 2025 gerecht werden. Kritiker werfen der Politik vor, das System bewusst im Modus der Notlösung zu halten, statt eine tiefgreifende Finanzreform einzuleiten. In den Krankenkassen selbst wächst der Unmut. Die Vorstände beklagen ein Klima permanenter Unsicherheit, in dem langfristige Planung kaum mehr möglich ist. Der Ruf nach einem politischen Befreiungsschlag wird lauter – doch bislang bleibt die Antwort eine Aufschiebung.

Was wie eine bloße Verwaltungsentscheidung anmutet – die Vorziehung eines Teilzuschusses aus dem Bundeshaushalt – ist in Wahrheit ein hilfloser Reflex auf ein strukturelles Versagen mit Ansage. Dass die Liquiditätsreserve der gesetzlichen Krankenkassen die gesetzlich vorgeschriebene Mindestmarke unterschreitet, ist kein Betriebsunfall, sondern ein sichtbares Symptom jahrzehntelanger Finanzkosmetik. Während die Ausgaben für medizinische Versorgung, Pflege und Digitalisierung steigen, während Beiträge steigen, während Leistungen gedeckelt oder retaxiert werden – bleibt die Systemantwort dieselbe: weiterwursteln, verschieben, vertagen.

Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken hat recht, wenn sie von einem „ersten Warnschuss“ spricht. Doch sie verkennt, dass dieser Schuss nicht der erste ist – sondern einer von vielen, die bisher ungehört verhallten. Der GKV-Finanzrahmen ist seit Jahren instabil. Reformversuche wurden politisch zerredet, strukturelle Korrekturen auf die lange Bank geschoben. Dass die nun angekündigte Reformkommission ihre Vorschläge erst 2027 vorlegen soll, zeigt die Tiefe dieser politischen Verweigerung. Es ist ein Signal an alle Beitragszahler: Es bleibt beim Flickwerk.

Besonders perfide ist dabei der Umgang mit dem Begriff „Bundeszuschuss“. Was als Rettung erscheint, ist in Wahrheit das, was ohnehin hätte fließen müssen – nur eben früher. Kein zusätzliches Geld, keine neue Richtung, kein Reformsignal. Gleichzeitig wird der Mangel wieder individualisiert: durch steigende Zusatzbeiträge, durch die Erwartung, dass Krankenkassen das Defizit intern managen. Der Bund verordnet Zahlungsfähigkeit, ohne finanzielle Verantwortung zu übernehmen.

Es ist bezeichnend, dass die größten Mahner nicht aus dem Bundesministerium, sondern aus den Ländern und dem Bundestag selbst kommen. Während Bayerns Ministerin auf versicherungsfremde Leistungen verweist, für die der Staat endlich zahlen müsse, und Grünen-Politikerin Piechotta die neue Ministerin frontal angreift, herrscht im Zentrum der Macht Stillstand. Die Krise wird erkannt, aber nicht beantwortet.

Wenn diese Dynamik anhält, wird die gesetzliche Krankenversicherung in absehbarer Zeit nicht mehr krisenfest, sondern dauerhaft krisenanfällig. Die Politik muss sich entscheiden: Will sie das System stabilisieren oder es weiter der Erosion preisgeben? Die Antwort liegt nicht in einer Verschiebung bis 2027 – sondern in einem radikalen Kurswechsel heute. Alles andere ist politisch verantwortungslos.

 

Dahmen, Kappert-Gonther, Wagner: Die Gesundheitsexperten

Die Grünen setzen auf bekannte Gesichter – und auf neue Perspektiven im Ausschuss

Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat entschieden, wie sie sich im Gesundheitsausschuss des 21. Deutschen Bundestags personell aufstellt. In einem politischen Umfeld, das von Reformstau, Systemdruck und wachsender gesundheitspolitischer Komplexität geprägt ist, setzen die Grünen auf eine Mischung aus erfahrenen Fachpolitikern und neuen Impulsgebern. Damit signalisiert die Partei sowohl Kontinuität als auch Erneuerungswillen – und stellt sich den Herausforderungen einer Legislatur, in der Gesundheitspolitik zur Schlüsseldisziplin wird.

Kern des neuen Teams ist der Notfallmediziner und Bundestagsabgeordnete Janosch Dahmen, der erneut als gesundheitspolitischer Sprecher fungiert. Dahmen gilt als eine der profiliertesten Stimmen der Fraktion in Fragen der Gesundheitsversorgung, Digitalisierung im Gesundheitswesen und Pandemiebekämpfung. Seine Position im Ausschuss sichert der Partei eine medienwirksame Präsenz, aber auch fachliche Tiefe. Dahmen war bereits in der vorherigen Legislaturperiode maßgeblich an den gesundheitspolitischen Positionierungen der Grünen beteiligt und bleibt in dieser Rolle ein strategischer Eckpfeiler.

Ebenfalls wieder Teil des Ausschusses ist die Ärztin Kirsten Kappert-Gonther, die erneut als stellvertretende Vorsitzende fungiert. Ihre Themenschwerpunkte lagen in der Vergangenheit vor allem im Bereich der psychischen Gesundheit, der Versorgungsforschung und der Prävention. Als ehemalige Vorsitzende des Gesundheitsausschusses hat sie bundesweit Anerkennung für ihre differenzierte, oft interdisziplinär angelegte Politikansätze erfahren. Gemeinsam mit Dahmen bildet sie das inhaltliche Rückgrat der grünen Gesundheitspolitik im Bundestag.

Der dritte Rückkehrer im Ausschussteam ist Johannes Wagner, Kinder- und Jugendmediziner aus Bayern, der in den vergangenen Jahren insbesondere im Bereich der öffentlichen Gesundheitsdienste, der Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche sowie der internationalen Gesundheitspolitik aktiv war. Seine Repräsentanz im Ausschuss steht für einen stärker lebensphasenspezifischen Blick auf Gesundheit und präventive Versorgung – ein Feld, das von den Grünen seit Langem systematisch bearbeitet wird.

Neu im Ausschuss vertreten ist Simone Fischer, die vor ihrem Bundestagsmandat Beauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg für die Belange von Menschen mit Behinderungen war. Ihre Perspektive bringt eine wichtige sozialpolitische Dimension in den Ausschuss ein. Die Grünen setzen damit bewusst ein Zeichen für die Integration von Inklusionsfragen in die gesundheitspolitische Agenda. Fischer steht für einen intersektionalen Gesundheitsbegriff, der strukturelle Benachteiligung systematisch adressieren will – und erweitert damit das Themenspektrum der Fraktion.

Ebenfalls aufgerückt ist Linda Heitmann, die bislang stellvertretendes Mitglied im Gesundheitsausschuss war. Als Geschäftsführerin in der Suchtkrankenhilfe bringt sie eine besondere fachliche Tiefe im Bereich der Suchtmedizin und Substitutionstherapie mit. Ihre Erfahrung aus der Praxis soll nun in die ordentliche Ausschussarbeit eingebracht werden – ein Wechsel von der zweiten in die erste Reihe, der sowohl auf Kompetenz als auch auf politische Planung hindeutet.

Die vier Stellvertretungen im Ausschuss sind mit Armin Grau, Ophelia Nick, Paula Piechotta und Sylvie Rietenberg benannt. Grau war in der vergangenen Legislaturperiode reguläres Mitglied und bringt als Neurologe weiterhin medizinische Expertise in die Fraktion ein. Ophelia Nick, bisher eher mit agrar- und ernährungspolitischen Themen verbunden, erweitert das Spektrum um gesundheitsrelevante Aspekte der Ernährungspolitik – ein Feld, das im Ausschuss zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Leipziger Ärztin Paula Piechotta bleibt als stellvertretendes Mitglied aktiv, ist jedoch weiterhin im Haushaltsausschuss tätig, wo sie sich auf die gesundheitspolitische Mittelverwendung konzentriert. Sylvie Rietenberg rundet das Stellvertreterteam ab.

Auffällig ist, dass mit Cordula Schulz-Asche und Maria Klein-Schmeink zwei gesundheitspolitische Schwergewichte der Grünen nicht mehr vertreten sind. Beide traten zur Bundestagswahl 2021 nicht erneut an, was personelle Lücken hinterließ, die nun durch gezielte Neubesetzungen ausgeglichen werden sollen. Die Fraktion betont dabei, dass sie auf inhaltliche Kontinuität setzt, ohne die Chance auf strukturelle Erweiterung zu verpassen.

Die Besetzung der Ausschüsse folgt dem Kräfteverhältnis im Plenum, wobei die Grünen nun mit fünf ordentlichen Mitgliedern und vier Stellvertretenden präsent sind. In der vergangenen Legislaturperiode waren es noch sieben reguläre Sitze, was auf die Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse zurückzuführen ist. Innerhalb dieses Rahmens war es das Ziel der Fraktion, ein möglichst vielseitiges, aber auch thematisch fokussiertes Gesundheitsteam zusammenzustellen – eine Vorgabe, die sich in der Mischung aus Fachärzten, Sozialpolitikern und Praktikern abbildet.

Die Entscheidung über die Ausschussbesetzung ist mehr als eine reine Formalie. Sie zeigt, wohin sich die gesundheitspolitischen Schwerpunkte der Fraktion entwickeln sollen. Die Auswahl der Personen verdeutlicht, dass die Grünen ihre Rolle im Gesundheitsdiskurs nicht auf Reaktion beschränken, sondern aktiv mitgestalten wollen. Themen wie psychische Gesundheit, Prävention, Gesundheitsgerechtigkeit und Digitalisierung werden weiterhin den Ton angeben. Gleichzeitig wird durch die Beteiligung von Vertretern mit praktischen Erfahrungen in der Behindertenpolitik oder Suchttherapie der Anspruch erhoben, Gesundheitspolitik näher an der gesellschaftlichen Realität auszurichten.

Die grüne Gesundheitspolitik im Bundestag hat damit eine neue Struktur, aber keinen Bruch mit der Vergangenheit vollzogen. Vielmehr spiegelt die personelle Aufstellung das Bemühen wider, vorhandene Kompetenz auszubauen und neue gesellschaftliche Realitäten stärker einzubinden. In einem System, das unter strukturellem Reformdruck steht, mag das ein notwendiger Schritt sein – aber ob es reicht, um konkrete gesundheitspolitische Fortschritte durchzusetzen, wird nicht nur von Ausschüssen entschieden. Sondern auch davon, ob die politischen Impulse aus den Fraktionen es schaffen, im parlamentarischen Prozess Wirkung zu entfalten.

Die personelle Aufstellung der Grünen im Gesundheitsausschuss zeigt eine Fraktion, die sich ihrer Verantwortung im gesundheitspolitischen Raum bewusst ist – aber auch eine, die zwischen Anspruch und Realisierbarkeit laviert. Die Rückkehr von Janosch Dahmen, Kirsten Kappert-Gonther und Johannes Wagner ist Ausdruck eines strategischen Klammerns an bewährte Kompetenzträger. In einer Zeit, in der das Gesundheitswesen in Deutschland gleichermaßen von Digitalisierung, Finanzierungslücken, demografischem Wandel und wachsender sozialer Disparität geprägt ist, mag dieser Kurs nachvollziehbar erscheinen. Doch er ist nicht ohne Risiko.

Denn was als Kontinuität verkauft wird, kann sich im parlamentarischen Alltag schnell als Pfadabhängigkeit entpuppen. Dahmen, Kappert-Gonther und Wagner stehen für eine grüne Gesundheitspolitik, die vielfach durchdacht, in Teilen jedoch auch akademisch-abstrakt wirkte – vor allem dann, wenn es um handfeste Reformvorschläge ging. Die Aufnahme von Simone Fischer und Linda Heitmann verspricht hier durchaus neue Impulse: Beide Frauen bringen Erfahrungen aus der sozialen und praktischen Arbeit ein, die den oft theorielastigen Diskurs der Bundesebene erden könnten. Doch genau diese Erdung wird nötig sein, wenn es darum geht, Reformen durchzusetzen, die über Sprechakte hinausreichen.

Der Ausschluss erfahrener Stimmen wie Schulz-Asche und Klein-Schmeink – bedingt durch Nicht-Wiederwahl – schafft zwar Raum für Neuaufstellungen, hinterlässt jedoch auch ein Vakuum an institutionellem Gedächtnis. Die Grünen haben darauf mit einer durchaus diversifizierten Besetzung reagiert, doch ob diese Breite auch die nötige Tiefe entfaltet, bleibt abzuwarten. Gesundheitspolitik ist heute kein Randthema mehr, sondern ein systemischer Dauerbrenner. Wer hier Akzente setzen will, muss Konflikte aushalten, Mehrheiten formen und handwerklich solide Gesetzesvorschläge vorlegen.

Der Ausschuss ist das Herzstück dieses Anspruchs, doch der Pulsschlag wird außerhalb gemessen – im Bundestag, im Kabinett, in der Öffentlichkeit. Genau hier müssen die Grünen beweisen, dass sie nicht nur die richtigen Fragen stellen, sondern auch belastbare Antworten liefern. Es wird nicht reichen, auf vorhandene Expertise zu bauen oder sich auf Diversität zu berufen. Die Versorgungsengpässe im ländlichen Raum, die Überlastung der Notaufnahmen, der Reformstau in der Pflege und der Reformdruck in der Arzneimittelpreisbildung verlangen eine Politik, die entschlossen und konkret ist.

Die Grünen stehen im Gesundheitsausschuss also an einem Scheideweg: Entweder sie nutzen ihre Position, um den Diskurs zu verschieben und realpolitische Impulse zu setzen – oder sie verharren in einer symbolischen Politik, die zwar Debatten gewinnt, aber keine Probleme löst. Dass ihre Vertreter fachlich qualifiziert sind, steht außer Frage. Entscheidend wird jedoch sein, ob diese Qualifikation in parlamentarische Durchschlagskraft übersetzt werden kann. Es geht nicht mehr nur um Haltung. Es geht um Handeln.

 

Bereitschaftsdienst als Berufung, Systemversagen als Realität, Versicherungen als Rückhalt

Warum emotionale Stärke allein nicht reicht – und was Apothekenbetreiber konkret absichern müssen.

Am 1. Mai stand Stefan Reichensperger allein in der Apotheke im Halleschen Einkaufspark (HEP) und absolvierte einen kompletten 24-Stunden-Notdienst – ohne Unterstützung, ohne Pause, ohne Ausgleich. Für ihn war es kein Grund zur Klage. „Ich empfinde jedes Problem im Bereitschaftsdienst als relevant und freue mich, wenn ich helfen kann“, sagt der Apotheker. Er stellt damit eine Haltung zur Schau, die dem öffentlichen Diskurs über die Notdienstbelastung eine neue Richtung geben könnte – nicht defensiv, sondern selbstbewusst, nicht klagend, sondern engagiert. Doch seine Aussage wirft auch ein Schlaglicht auf eine Versorgungsrealität, die gefährlich aus dem Gleichgewicht geraten ist. Denn dass ein hochverantwortlicher Gesundheitsdienst von Einzelpersonen unter enormem Druck und ohne strukturelle Rückendeckung aufrechterhalten werden muss, sollte nicht als Heldentat gefeiert werden, sondern als systemischer Alarm verstanden werden.

Die Nacht- und Notdienste der Apotheken bilden einen zentralen Baustein der medizinischen Grundversorgung in Deutschland. Mehr als 20.000 Notdienste pro Monat, oft unter prekären Bedingungen, werden geleistet, damit Patientinnen und Patienten auch an Feiertagen Zugang zu Arzneimitteln haben. Doch hinter den Kulissen wächst die Überforderung. Personalmangel, wirtschaftlicher Druck und steigende Anforderungen an Sicherheit, Datenschutz und Dokumentation treffen auf ein System, das diese Dienste wie eine Selbstverständlichkeit behandelt. Der gesetzlich vorgesehene Notdienstzuschlag deckt die realen Kosten oft nicht annähernd, zusätzliche Risiken durch Cyberangriffe oder fehlerhafte Rezeptverarbeitung im E-Rezept-System bleiben unzureichend abgesichert.

Für Apothekenbetreiber bedeutet ein einzelner Notdienst nicht nur organisatorische Herausforderungen, sondern auch eine erhebliche Haftungsverantwortung. Bei Beratungsfehlern, Rezeptfälschungen, technischen Ausfällen oder datenschutzrechtlichen Verstößen haften sie in voller unternehmerischer Verantwortung – auch wenn der Bereitschaftsdienst außerhalb regulärer Betriebszeiten liegt. Es ist eine Verantwortung, die häufig unterschätzt wird, besonders wenn die Dienste im Wechsel mit geringem Personalbestand oder gar allein durchgeführt werden. Die Vorstellung, mit einem positiven Mindset könne man diesen Belastungen begegnen, greift zu kurz – es braucht eine strukturierte Absicherungsstrategie, die rechtliche, technische und wirtschaftliche Risiken gleichermaßen adressiert.

Der Fall von Stefan Reichensperger zeigt eindrucksvoll die Doppeldeutigkeit des Notdienstes. Einerseits der ehrenvolle Dienst am Menschen, getragen von fachlicher Kompetenz, persönlicher Haltung und ethischem Berufsethos. Andererseits ein Versorgungskonzept, das auf individuellem Durchhaltewillen beruht und strukturell zunehmend an seine Grenzen gerät. Die Erfahrung eines Einzelnen kann nicht länger als Beleg für die Stabilität eines Systems gelten, das sich auf diesen Einzelnen verlässt. Vielmehr muss dieser Dienst als Gradmesser für Reformbedarf gelesen werden: Notdiensthonorare müssen kostendeckend gestaltet, Haftungsfragen neu bewertet, technische Sicherheitslücken geschlossen und Notdienststrukturen auf personelle und digitale Resilienz hin optimiert werden.

Für Apothekenbetreiber ergibt sich daraus eine doppelte Aufgabe. Einerseits sind sie rechtlich verpflichtet, den Notdienst aufrechtzuerhalten und dabei alle Regularien einzuhalten. Andererseits müssen sie sich aktiv mit der Frage auseinandersetzen, wie sie ihr Team, ihre Technik und ihre Prozesse gegen die zunehmenden Belastungen wappnen. Dazu gehört eine präzise Bewertung der Versicherungsdeckung – von der Betriebshaftpflicht über die Cyberversicherung bis hin zur Berufshaftung im Bereitschaftsdienst. Wer diese Fragen ignoriert, riskiert im Ernstfall nicht nur finanzielle Schäden, sondern auch den Bestand des Betriebs.

Die Aussage von Stefan Reichensperger, er gehe mit Stolz in den Notdienst, ist ebenso inspirierend wie alarmierend. Inspirierend, weil sie daran erinnert, dass Apotheken mehr sind als Arzneimittelausgabestellen. Sie sind Versorgungsanker, Krisenmanager, medizinische Ansprechpartner – und das auch dann, wenn die Welt um sie herum ruht. Alarmierend, weil dieser Stolz zu oft als Entschuldigung für ein defizitäres System herhalten muss. Denn was auf der Oberfläche wie ein Ausdruck von Berufung wirkt, ist auf struktureller Ebene ein Hinweis auf eine tiefsitzende politische Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Notdienstrealität.

Es ist höchste Zeit, die Narrative über den Apothekennotdienst zu korrigieren. Der romantisierende Blick auf selbstlose Nachtschichten hat seinen Preis – nämlich die fehlende Bereitschaft, die Arbeitsbedingungen ernsthaft zu reformieren. Der Notdienst ist kein Bonusdienst, kein ehrenamtliches Add-on zur regulären Versorgung, sondern ein hochregulierter, haftungsintensiver und personell anspruchsvoller Bestandteil des Gesundheitswesens. Die politischen Rahmenbedingungen behandeln ihn jedoch wie eine organisatorische Selbstverständlichkeit – bereitgestellt von einer Berufsgruppe, die schon genug belastet ist.

Die eigentliche Zumutung liegt nicht im Dienst selbst, sondern in den Bedingungen, unter denen er geleistet wird: häufig allein, unter wirtschaftlichem Druck, bei fehlender Honoraranpassung und ohne jede Risikoabfederung durch den Staat. Dass dieser Dienst noch funktioniert, ist nicht der Politik zu verdanken, sondern Menschen wie Reichensperger – die trotz allem bereitstehen. Doch genau deshalb darf dieses Engagement nicht länger als stillschweigende Kompensation für politische Untätigkeit missverstanden werden.

Die Politik ist in der Pflicht, endlich tragfähige Strukturen zu schaffen. Notdienstvergütungen müssen realistisch kalkuliert und regelmäßig angepasst werden. Die Digitalisierung, insbesondere das E-Rezept, muss mit verlässlicher IT- und Datensicherheit einhergehen. Betreiber benötigen klare gesetzliche Haftungsregelungen für Notdienstzeiten und eine Versicherungslösung, die diesen besonderen Modus berücksichtigt. Wer die Notdienstfähigkeit der Apotheken erhalten will, muss sie nicht nur würdigen, sondern auch strukturell absichern – mit Geld, mit Rechtsschutz und mit einem funktionierenden Versorgungssystem.

 

Testzentrum als Tatort, Abrechnungsbetrug im Pandemiemodus, Landgericht entscheidet über Prozess

Zwei Männer stehen im Verdacht, systematisch fingierte Corona-Tests abgerechnet und damit 367.000 Euro Schaden verursacht zu haben

In Oberbayern steht ein bislang beispielloser Abrechnungsbetrug im Fokus der Justiz: Zwei Männer im Alter von 34 und 35 Jahren sollen zwischen Februar 2022 und März 2023 in mehreren Corona-Testzentren systematisch Scheinabrechnungen für Schnelltests und weitere Leistungen eingereicht haben, die niemals erbracht wurden. Die von ihnen angezeigten Tagesstatistiken – teils hunderte Tests pro Zentrum – lassen sich laut Anklageschrift der Bayerischen Zentralstelle zur Bekämpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen (ZKG) weder durch Personal- noch durch Patientendaten belegen. Die manipulierten Datensätze wurden über die digitale Schnittstelle der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) eingereicht, sodass die Behörden erst nachträglich durch stichprobenartige Prüfungen auf Unstimmigkeiten aufmerksam wurden. Der Gesamtschaden beläuft sich auf rund 367.000 Euro.

Ein Blick auf die technische Infrastruktur der Abrechnung offenbart die Schwachstelle: Die KVB hatte zur Entlastung ihrer Mitarbeiter eine automatisierte Erfassungssoftware eingeführt, die formularbasierte Eingaben direkt in Abrechnungsnummern übersetzte und ohne manuelle Plausibilitätskontrolle weiterleitete. Während der Hochphase der Teststrategie herrschte politischer und medialer Druck, niedrigschwellige Testangebote zügig flächendeckend bereitzustellen. Legitimation und Geschwindigkeit wurden der Kontrolle vorgezogen – ein Umstand, den die Beschuldigten nach Überzeugung der Ermittler gezielt ausnutzten. In Vor-Ort-Überprüfungen fanden Prüfer teils verschlossene Räumlichkeiten vor, in denen nie eine offizielle Teststation eingerichtet gewesen war.

Der Fall zeigt Parallelen zu bereits bekannten Betrugsprozessen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, bei denen Testzentren über ähnliche Schnittstellen falsche Leistungszahlen generierten. Doch während dort die Schadenssummen meist im fünfstelligen Bereich lagen, erreicht der oberbayerische Fall fast vierhunderttausend Euro – ein Ausmaß, das Fragen nach politischer Verantwortung und zukünftiger Pandemiebereitschaft aufwirft. Kritiker bemängeln, die Landes- und Bundespolitik hätten versäumt, digitale Abrechnungssysteme frühzeitig gegen Missbrauch abzusichern. Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums in München räumte zwar technische Verbesserungen ein, verwies jedoch auf das „außerordentliche Tempo“, in dem Testangebote aufgebaut werden mussten.

Die Ermittlungen führten zur Sicherstellung umfangreicher Datenbestände: Buchhaltungsunterlagen, digitale Geräte und interne Chatprotokolle, die offenbar interne Anweisungen zwischen den Beschuldigten dokumentieren. Die Staatsanwaltschaft hält das Vorgehen für gewerbsmäßig – eine Qualifikation, die im Falle einer Verurteilung höhere Strafen nach sich zieht. Beide sitzen seit Oktober 2023 in Untersuchungshaft und haben sich bislang nicht geäußert. Das Landgericht Traunstein wird nun entscheiden, ob es das Hauptverfahren eröffnet. Sollte die Kammer dem Antrag der Anklage folgen, drohen den Männern Freiheitsstrafen von mehreren Jahren sowie eine zivilrechtliche Forderung auf Rückzahlung der erschlichenen Gelder.

Parallel dazu hat die KVB angekündigt, ihr Abrechnungssystem um eine mehrstufige Plausibilitätsprüfung zu ergänzen. Künftig sollen in Verdachtsfällen automatisierte Warnmeldungen an geschulte Prüfer ausgelöst werden. Gesundheitspolitiker sehen darin einen „wichtigen Schritt“, betonen jedoch, dass eine dauerhafte Pandemievorsorge nur gelingen könne, wenn technische Systeme, rechtliche Rahmenbedingungen und Personalressourcen im Einklang stehen. Die Frage bleibt, ob die Aufarbeitung des Falls weit genug geht, um künftigen Betrug wirkungsvoll zu verhindern – oder ob weiterhin Vertrauen und Tempo auf Kosten sorgfältiger Kontrolle gehen werden.

Der Betrug mit fingierten Corona-Testabrechnungen offenbart mehr als nur die Skrupellosigkeit einzelner Täter: Er legt ein strukturelles Dilemma offen, das sich in der Pandemiepolitik manifestiert hat. In der verzweifelten Suche nach schneller Testkapazität entstand ein digitales Abrechnungssystem, das auf Effizienz und geringe Hürden, nicht aber auf robuste Sicherheitsmechanismen ausgelegt war. Die beiden Angeklagten nutzten dieses Ungleichgewicht perfekt aus: Sie missbrauchten die Schnittstelle zur KVB, ohne jemals beim tatsächlichen Betrieb eines Testzentrums kontrolliert zu werden. Damit demonstrieren sie, wie anfällig hochkomplexe Gesundheitssysteme für Missbrauch sein können, wenn politische Dringlichkeit technische Standards überlagert.

Politisch Verantwortliche argumentieren, dass in einer Ausnahmesituation jeder Tag zählt und bürokratische Bremsklötze Leben kosten können. Doch das aktuelle Verfahren sollte lehren, dass Tempo ohne Kontrolle fatale Folgen haben kann – nicht nur finanziell, sondern auch für das Vertrauen der Bevölkerung. Wer nach positiver Testung vergeblich auf Hilfe hofft oder in vermeintlich zugänglichen Zentren nie einen Test vorfindet, der zweifelt an der Handlungsfähigkeit staatlicher Institutionen. Genau dieses Misstrauen könnten schwarze Schafe in Kauf nehmen, wenn Abrechnungen ohne nachvollziehbare Leistungserbringung akzeptiert werden.

Die geplanten Nachbesserungen bei der KVB – mehrstufige Plausibilitätschecks, automatisierte Alarme, manuelle Stichproben – sind richtig und notwendiger Schritt. Sie müssen aber Teil eines Gesamtkonzepts sein, das technische, rechtliche und personelle Maßnahmen verzahnt. Eine reine Softwarelösung reicht nicht, wenn nicht parallel Personal für zügige und dennoch gründliche Auswertung bereitsteht. Zudem wären klarere gesetzliche Vorgaben sinnvoll: Wer digitale Leistungen abrechnet, sollte wie im Heilmittelbereich verpflichtet werden, stichprobenartige Nachweise vorzulegen. Eine solche Regelung würde den Druck auf potenzielle Betrüger erhöhen und gleichzeitig echte, seriöse Anbieter schützen.

Letztlich geht es nicht nur um die Bestrafung krimineller Einzeltäter, sondern um eine politische Lehre: Schnelle digitale Transformation im Gesundheitswesen darf nicht auf Kosten transparenter Prozesse und solider Kontrolle erfolgen. Die Pandemie war eine beispiellose Herausforderung, doch das misst sich nicht nur in Fallzahlen, sondern auch in der Integrität des Systems. Wenn wir künftige Krisen besser bewältigen wollen, müssen wir die Balance zwischen Geschwindigkeit und Sicherheit neu justieren und ein Abrechnungssystem schaffen, das sowohl effizient als auch fälschungssicher ist.

 

Apothekenüberfall in Barsinghausen, Flucht auf Fahrrad, Täter ohne Beute

Ein Mann attackiert eine Angestellte mit Messer und flieht maskiert – Polizei bittet um Hinweise

Ein brutaler Übergriff auf eine Apothekenangestellte erschüttert die niedersächsische Stadt Barsinghausen bei Hannover. Am frühen Montagabend gegen 17.40 Uhr wurde eine 41-jährige Mitarbeiterin in einer Apotheke an der Breiten Straße Opfer eines bewaffneten Angriffs. Ein bislang unbekannter Täter näherte sich der Frau offenbar von hinten, ergriff sie gewaltsam am Hals und hielt ihr dabei ein Messer an. Anschließend zwang er sie in den Lagerraum der Apotheke. Die Polizei Hannover wertet den Angriff als schweren Raub, auch wenn der Mann letztlich keine Beute machte.

Im Lagerraum griff der maskierte Täter ein Arzneimittel aus dem Regal, ließ es jedoch kurz darauf zurück. Ohne etwas mitzunehmen, flüchtete er zu Fuß aus dem Gebäude und setzte sich auf ein schwarzes Fahrrad, mit dem er in Richtung Langenäcker Straße davonfuhr. Die Polizei leitete umgehend eine Fahndung ein, die bislang jedoch erfolglos blieb. Das Opfer blieb nach offiziellen Angaben körperlich unversehrt, erlitt aber einen erheblichen Schock und wurde psychologisch betreut.

Die Täterbeschreibung fällt ungewöhnlich detailliert aus. Der Mann soll etwa 1,70 Meter groß und schlank gewesen sein. Zum Tatzeitpunkt trug er schwarze Kleidung – ein Hoodie, eine Hose sowie schwarze Schuhe – und hatte sein Gesicht hinter einer weißen FFP2-Maske verborgen. Der Frau fiel besonders der glasige Blick des Mannes auf sowie seine auffallend unsichere Fahrweise auf dem Rad, was möglicherweise auf eine Beeinträchtigung hindeuten könnte. Ob Drogen oder psychische Instabilität eine Rolle spielten, ist bislang Spekulation.

Der Fall wirft erneut Fragen zur Sicherheit in Apotheken auf, gerade in den frühen Abendstunden, wenn viele Betriebe nur mit einer oder zwei Personen besetzt sind. Die Tatsache, dass der Täter die Apotheke nicht ausraubte, sondern lediglich ein Medikament in der Hand hielt, bevor er es zurückließ, lässt Raum für verschiedene Deutungen. Ein gezielter Medikamentendiebstahl? Eine spontane, psychotisch getriebene Handlung? Oder das Werk eines potenziell suizidalen Täters mit wirren Motiven? Die Polizei will keine Hypothesen bestätigen und bittet stattdessen die Bevölkerung um Mithilfe.

Konkret sucht die Polizei Hannover nach Zeuginnen und Zeugen, die zur Tatzeit rund um die Breite Straße oder im Bereich der Langenäcker Straße verdächtige Beobachtungen gemacht haben. Hinweise nimmt das zuständige Kommissariat in Barsinghausen entgegen. Der Tatort liegt in einer zentralen Zone, was die Hoffnung nährt, dass Überwachungskameras oder Augenzeugen zur Aufklärung beitragen können.

Apotheken gelten gemeinhin als Orte medizinischer Versorgung und Ruhe – doch der Vorfall zeigt, wie schnell auch sie zum Schauplatz plötzlicher Gewalt werden können. In der Branche wird seit Jahren auf die steigende Zahl von Übergriffen, Einbrüchen und Bedrohungsszenarien hingewiesen, doch konkrete Schutzmaßnahmen bleiben aufwändig und kostenintensiv. Der aktuelle Fall könnte diese Diskussion erneut anstoßen, vor allem, wenn sich herausstellt, dass die Tat nicht nur dem Zweck der Bereicherung diente, sondern tiefere psychische oder gesellschaftliche Ursachen offenbarte.

Dieser Überfall in einer Apotheke in Barsinghausen ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend – und beunruhigend. Zum einen steht er exemplarisch für eine wachsende Bedrohungslage, der sich Apothekenpersonal im Alltag kaum entziehen kann. Dass Apotheken, ähnlich wie Tankstellen oder Spätverkaufsstellen, zu Zielorten spontaner oder gezielter Gewalt werden, ist keine neue Entwicklung – doch die Art der Tat, die offenbar weder Beute noch klares Ziel hatte, legt einen anderen, tieferliegenden Problemkomplex offen: die zunehmende Präsenz psychisch auffälliger, mitunter enthemmter Täter in Alltagssituationen.

Ein Mann, der eine Frau mit einem Messer bedroht, sie in einen Lagerraum zwingt, dort ein Medikament greift – und dann flieht, ohne etwas mitzunehmen. Diese Handlungsabfolge ist nicht rational erklärbar im Sinne eines klassischen Raubmotivs. Die Bewegungen des Täters deuten vielmehr auf eine impulsive, instabile Handlung hin. Die unsichere Fahrweise, die glasigen Augen, das rasche Verlassen des Tatorts trotz zunächst dominanter Gewaltanwendung – all das verweist auf mögliche Drogenproblematik, psychische Krankheit oder eine unkontrollierte Verzweiflungstat.

Die Polizei ist in solchen Fällen doppelt gefordert: Einerseits bei der strafrechtlichen Aufklärung des versuchten Raubes, andererseits bei der Sensibilisierung der Bevölkerung und dem Schutz potenzieller weiterer Opfer. Es ist daher zu hoffen, dass nicht nur die Tätersuche rasch gelingt, sondern auch eine ehrliche Diskussion über die Schutzstandards in Apotheken angestoßen wird. Diese Orte sind nicht nur Verkaufsstätten für Arzneimittel – sie sind oft erste medizinische Anlaufstellen in Akutsituationen, nachts besetzt, oft unterbesetzt und zugleich öffentlich zugänglich. Die Risiken, denen sich Personal dort täglich aussetzt, werden in der Öffentlichkeit systematisch unterschätzt.

Die Politik kann sich hier nicht auf strukturelle Langfristlösungen beschränken. Apotheken brauchen finanzierbare, niedrigschwellige Schutzkonzepte – von baulicher Prävention über Notrufsysteme bis hin zu Schulungen im Umgang mit Übergriffen. Die Vorstellung, dass Apotheken trotz des sensiblen Umfelds vollkommen schutzlos sind, widerspricht jeder staatlichen Fürsorgeverantwortung. Es reicht nicht aus, wenn Polizeimeldungen im Nachgang nüchtern informieren. Der Schutz muss vorher greifen.

Zugleich zeigt der Fall, dass das soziale Netz für psychisch auffällige Menschen weiter Löcher aufweist. Wer immer dieser Täter war – er ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern Symptom eines gesellschaftlichen Ungleichgewichts. Apotheken werden zu unbeabsichtigten Frontlinien dieser Entwicklung. Es ist Zeit, sie nicht länger allein zu lassen.

 

Bereitschaftsdienst als Berufung, Systemversagen als Realität, Versicherungen als Rückhalt

Warum emotionale Stärke allein nicht reicht – und was Apothekenbetreiber konkret absichern müssen.

Am 1. Mai stand Stefan Reichensperger für einen gesamten 24-Stunden-Notdienst allein in der Apotheke im Halleschen Einkaufspark (HEP) in Halle (Saale). Kein zusätzliches Personal, kein Bereitschaftsdienst im Hintergrund, keine organisatorische Entlastung. Nur er, das HV-System, ein stetig fluktuierender Strom an Patientinnen und Patienten – und ein medizinisches Versorgungsbedürfnis, das keinen Feiertag kennt. Der Tag verlief ohne Zwischenfall, ohne Pause, ohne Anerkennung. Sein Fazit: „Ich empfinde jedes Problem im Bereitschaftsdienst als relevant und freue mich, wenn ich helfen kann.“ Für Reichensperger ist das keine rhetorische Formel, sondern gelebte Realität. Es ist auch ein Statement, das über den Einzelfall hinausweist – denn es konfrontiert die Branche mit einer unangenehmen Frage: Was, wenn der Notdienst längst nicht mehr funktioniert, sondern nur noch funktioniert trotz allem?

Die Nacht- und Feiertagsdienste in öffentlichen Apotheken gelten rechtlich als Versorgungsauftrag – medizinisch relevant, strukturell unverzichtbar und betrieblich verpflichtend. Bundesweit absolvieren Apotheken im Schnitt über 20.000 Notdienste im Monat. Dabei erhalten sie für jede abgegebene Rx-Packung einen pauschalen Notdienstzuschlag, derzeit 21 Cent, der zentral über den Nacht- und Notdienstfonds verteilt wird. Doch weder die Honorierung noch die staatliche Steuerung reflektieren den tatsächlichen Aufwand. Gerade in ländlichen Regionen oder Ballungsräumen mit hoher Patientenfrequenz steht der einzelne Apotheker oft ohne Assistenz, ohne IT-Backup und ohne rechtliche Schutzmechanismen im Dienst – mit voller Haftung, vollem Risiko, vollem Versorgungsauftrag.

Der Fall Reichensperger bringt die stille Absurdität dieses Systems ans Licht. Es handelt sich nicht um einen Einzelfall, sondern um einen systemisch zugelassenen Ausnahmezustand, der zur Norm wird. Wenn ein Apotheker 24 Stunden alleine im Dienst steht, ist das kein Sonderfall, sondern vielerorts gängige Praxis. Das hat betriebliche, juristische und gesundheitspolitische Konsequenzen. Denn jeder dieser Dienste umfasst nicht nur die Medikamentenabgabe, sondern eine ganze Kette an hochsensiblen Tätigkeiten: Arzneimittelberatung, Rezeptprüfung, Plausibilitätskontrolle, Medikationsmanagement – unter Zeitdruck, mit gestressten Patienten, oft in medizinischen Notlagen. Fehler in dieser Kette – etwa bei der Verwechslung von Wirkstärken, der Abgabe ohne korrekte eGK-Prüfung oder bei unklarer Interaktionslage – können nicht nur zu Retaxationen führen, sondern auch zu gravierenden gesundheitlichen Folgen für die Patientinnen und Patienten. Und im Unterschied zur Regelversorgung haften Apothekeninhaber im Notdienst in vollem Umfang selbst – auch bei Systemausfällen, fehlerhafter Software oder unentdeckten Rezeptfälschungen.

Die betriebswirtschaftliche Dimension bleibt dabei weitgehend ignoriert. Ein durchschnittlicher Notdienst verursacht Personalkosten, Nebenkosten und Ausfallzeiten, die in keinem Verhältnis zur Pauschalvergütung stehen. Betreiber müssen in dieser Zeit auf Ruhezeiten achten, Urlaubsansprüche anpassen, technische Wartung sicherstellen und sich gegen eine Vielzahl von Risiken absichern: vom Einbruchschutz über Cyberangriffe bis hin zur Regresshaftung. Besonders prekär wird es, wenn der Notdienst – wie im Fall Reichensperger – im Alleingang durchgeführt wird. Ohne Gegenkontrolle durch Kollegen, ohne Backup bei Überlastung, ohne fachliche Entlastung bei unklaren Fällen. In solchen Konstellationen wird der Bereitschaftsdienst nicht nur zur logistischen, sondern zur rechtlich extrem angreifbaren Zone.

Und dennoch wird der Notdienst politisch kaum beachtet. Weder das Bundesgesundheitsministerium noch der Gesetzgeber haben bislang konkrete Reformvorschläge zur nachhaltigen Finanzierung, personellen Absicherung oder digitalen Sicherung des Notdienstsystems vorgelegt. Stattdessen bleibt es bei symbolischen Lippenbekenntnissen und einmaligen Zuschüssen – etwa den im Koalitionsvertrag verankerten 9,50 Euro Fixum pro Packung oder Sonderzahlungen an strukturschwache Regionen. Doch diese Maßnahmen greifen zu kurz. Denn sie lösen nicht das Grundproblem: Die Apothekenversorgung in Randzeiten basiert auf freiwilligem Engagement und betrieblichem Selbstausbeutungsrisiko – nicht auf gesicherter Finanzierung, nicht auf kollektiver Absicherung, nicht auf funktionierender Infrastruktur.

Für Apothekenbetreiber ergeben sich daraus konkrete Handlungsbedarfe, die weit über Organisation und Einsatzplanung hinausgehen. Es braucht einen umfassenden Risikocheck für den Notdienstbetrieb. Welche Haftpflichtversicherung deckt Tätigkeiten außerhalb der regulären Öffnungszeiten ab? Ist eine separate Cyberversicherung aktiv, falls E-Rezepte oder Kartenterminals im Nachtdienst gehackt oder manipuliert werden? Welche Strafrechtsschutzbausteine greifen im Falle eines Medikationsfehlers mit Körperverletzungsfolge? Welche Betriebsausfallversicherungen sichern den wirtschaftlichen Schaden, wenn ein Dienst wegen Krankheit, Einbruch oder Technikversagen nicht besetzt werden kann? Diese Fragen sind längst keine abstrakten Szenarien mehr, sondern betrieblicher Alltag in einem digitalisierten, überregulierten und unterfinanzierten Gesundheitssystem.

Was Stefan Reichensperger mit seiner Aussage formuliert, ist damit auch eine stille Anklage: Nicht gegen die Patienten, nicht gegen den Beruf, sondern gegen die fehlende politische Anerkennung für eine der letzten verbliebenen Schnittstellen echter Versorgungssolidarität. Die Notdienste der Apotheken sind keine lästige Pflicht, sondern eine tragende Säule der Gesundheitsversorgung – rund um die Uhr, an jedem Tag im Jahr. Doch wer sie erhält, muss auch für ihre Sicherheit sorgen. Und das bedeutet: klare gesetzliche Regeln, fair vergütete Bereitschaft, umfassende Risikoabsicherung und eine echte strukturelle Reform der Bereitschaftsdienste. Alles andere ist ein gefährliches Spiel mit der Belastbarkeit eines Berufsstandes, der längst weit über seine Grenzen hinaus Dienst leistet.

Wenn Stefan Reichensperger sagt, man solle den Notdienst mit Stolz verrichten statt zu jammern, dann trifft er einen wunden Punkt – nicht nur innerhalb der Apothekerschaft, sondern auch im System drumherum. Denn seine Aussage klingt wie eine paradoxe Zumutung: Stolz auf eine Aufgabe, die politisch entwertet, strukturell unterversichert und wirtschaftlich defizitär ist. Der Satz beeindruckt, weil er Haltung zeigt – und erschreckt, weil er das stille Leiden eines Berufsstandes überdeckt, der sich zwischen Pflichtgefühl und Systemverweigerung aufreibt. Die eigentliche Frage lautet daher nicht, ob Apotheker stolz auf ihre Bereitschaftsdienste sein dürfen – sondern wie lange man von ihnen erwarten kann, das Fundament der Versorgung auf ihren Schultern zu tragen, ohne dass dieses System endlich stabilisiert wird.

Der Notdienst ist längst zur Projektionsfläche eines gesundheitspolitischen Selbstbetrugs geworden. Politiker sprechen vom Rückgrat der Versorgung, von Dankbarkeit, von Respekt – aber behandeln den Notdienst wie eine betriebliche Restgröße: verordneter Dienst, systemisch zwingend, individuell verhandelbar. Es ist ein Konstrukt, das auf stillschweigender Überforderung basiert und durch moralische Aufladung kaschiert wird. Der Berufsstolz wird dabei zum doppelten Druckmittel: Er verhindert Widerstand – und dient zugleich als Legitimation für ausbleibende Reformen. Wer stolz ist, kämpft nicht. Wer kämpft, ist undankbar. So einfach ist die Formel, nach der Politik und Verwaltung das Notdienstsystem der Apotheken seit Jahren verwalten.

Doch diese Rechnung geht nicht mehr auf. Die Realität in den Betrieben – sei es im urbanen Zentrum oder auf dem flachen Land – ist geprägt von Personalengpässen, Sicherheitsrisiken, digitaler Unsicherheit und juristischer Verantwortungsverlagerung. Es ist kein Zufall, dass immer mehr Apotheken versuchen, sich aus dem Notdienst herauszuhalten oder Ersatzlösungen zu finden. Denn hinter jeder 24-Stunden-Schicht steht heute eine haftungsrechtlich aufgeladene Entscheidung: Bin ich bereit, das volle Risiko für einen Dienst zu übernehmen, bei dem ich für Fehler, Ausfälle oder Missverständnisse allein gerade stehen muss – während der Staat sich darauf verlässt, dass ich trotzdem auftauche?

Der Fall Reichensperger bringt das Dilemma auf den Punkt: Ein Apotheker allein im Notdienst, freiwillig, pflichtbewusst, idealistisch – und zugleich hochgradig exponiert. Kein zweites Paar Augen für Plausibilitätsprüfungen. Kein IT-Support bei Rezeptstörungen. Kein Datenschutzbeauftragter bei einem E-Rezept-Fehler. Kein Verteidiger im Raum, wenn ein Medikationsirrtum zu juristischen Konsequenzen führt. Wer den Dienst so leistet, zeigt Mut – aber auch, wie tief das System die individuellen Belastungsgrenzen normalisiert hat. Und genau das ist das Problem.

Die Standesvertretungen – Kammern, Verbände, ABDA – haben dieses strukturelle Ungleichgewicht über Jahre hinweg mitgetragen. Statt systematisch gegen die Überlastung der Notdienste zu kämpfen, wurde das Bild des engagierten Einzelkämpfers kultiviert. Statt präzise Forderungen an Politik, GKV-Spitzenverband und Justiz zu stellen, wurde das Thema in Dankesreden und Imagekampagnen zerredet. Und statt die ökonomische Realität des Notdienstes in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken, wurde die Diskussion auf symbolische Maßnahmen reduziert – vom Notdienstzuschlag bis zur Imagepflege.

Dabei wäre die Aufgabenlage klar: Der Notdienst muss nicht reformuliert, sondern reorganisiert werden – juristisch, wirtschaftlich, versicherungstechnisch. Es braucht belastbare Regelungen zur Haftungsübernahme in Bereitschaftszeiten, klare Refinanzierungsmodelle für realistische Kostendeckung, verpflichtende IT-Standards zur Absicherung digitaler Prozesse und eine zentrale Struktur zur Organisation von Back-up-Diensten und Personalreserven. Kurz: Der Notdienst braucht keine emotionale Aufladung, sondern eine institutionelle Absicherung.

Für Apothekenbetreiber heißt das im Hier und Jetzt: Risikoanalyse statt Romantik. Wer den Notdienst aufrechterhält, braucht heute mehr als Mut und Moral. Er braucht ein rechtlich abgesichertes Fundament. Dazu gehören individuell abgestimmte Versicherungskonzepte, die den Bereitschaftsdienst explizit einschließen – insbesondere bei Cybergefahren, Datenverlusten, Rezeptfehlern oder Arzneimittelzwischenfällen. Es braucht klare Notfallpläne bei Systemausfällen, eine regelmäßige rechtliche Schulung der Notdienstkräfte und eine betriebsinterne Struktur, die den Dienst nicht zu einer Ein-Mann-Operation verkommen lässt. Denn jede Nachtschicht, die allein gestemmt wird, ist ein strukturelles Alarmzeichen – nicht ein Zeichen persönlicher Stärke.

Gleichzeitig muss auch das gesellschaftliche Verständnis korrigiert werden. Notdienst ist keine Ausnahme, kein Bonus, kein Sonderengagement. Er ist Teil der Grundversorgung – und muss deshalb genauso abgesichert, finanziert und unterstützt werden wie der Regeldienst. Dass dies bislang nicht geschieht, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Verdrängung. Man hat sich daran gewöhnt, dass Apotheken einfach funktionieren – auch nachts, auch allein, auch unter Druck. Doch Systeme, die sich auf Gewohnheiten verlassen, sind instabil. Und Systeme, die ihre tragenden Akteure nicht schützen, verlieren sie irgendwann.

Die Worte von Reichensperger sind deshalb doppelt lesbar: als Appell an die Haltung und als stille Mahnung an die Struktur. Ja, Apothekerinnen und Apotheker dürfen stolz sein auf ihren Beruf. Aber dieser Stolz darf nicht die Reformbereitschaft dämpfen, die Notdienst endlich aus der Grauzone der Überlastung holen muss. Wer das System liebt, muss es verändern. Wer den Notdienst sichern will, muss ihn zuerst absichern. Alles andere ist moralisch wohlklingend – und strukturell verantwortungslos.

 

Tavapadon senkt Nebenwirkungsrisiko, verbessert Motorik, verändert Parkinsontherapie

Ein neuartiger Wirkstoff eröffnet Patienten mit Morbus Parkinson eine verträglichere Behandlungsoption ohne klassische D2-Last.

Mit Tavapadon rückt ein neuartiger Wirkstoff in das Zentrum der internationalen Parkinsonforschung. Der erste Vertreter einer neuen pharmakologischen Klasse – partieller Agonist an D1- und D5-Dopaminrezeptoren – wurde beim diesjährigen Jahreskongress der American Academy of Neurology (AAN) in Chicago als vielversprechende Alternative zu etablierten Behandlungen vorgestellt. Die dort präsentierten Daten aus mehreren klinischen Studien der Phase II und III belegen nicht nur eine signifikante Verbesserung der motorischen Funktionen bei Patienten mit idiopathischem Parkinsonsyndrom, sondern vor allem eine deutliche Reduktion der typischen Nebenwirkungen, wie sie unter herkömmlichen dopaminergen Substanzen häufig auftreten.

Im Zentrum der Analyse standen Parameter wie motorische Stabilität, "ON"- und "OFF"-Zeiten sowie das Auftreten von Dyskinesien – unwillkürliche Überbewegungen, die unter der Langzeitanwendung klassischer Dopaminagonisten, insbesondere an D2-Rezeptoren, gehäuft beobachtet werden. Hier zeigte Tavapadon eine auffällig günstige Wirkung. Die Patienten berichteten von verbesserter Mobilität bei gleichzeitig weniger Überstimulation. Gleichzeitig konnte eine gleichmäßige Symptomkontrolle über den Tagesverlauf nachgewiesen werden – ein Umstand, der in der bisherigen Dopamintherapie nicht selbstverständlich ist.

Wissenschaftlich interessant ist dabei der Wirkansatz von Tavapadon selbst. Während bisherige Therapien vor allem auf eine starke, oft vollständige Agonisierung der D2-Rezeptoren setzen, was bei längerfristiger Anwendung nicht selten zu psychiatrischen oder vegetativen Komplikationen führt, beschreitet Tavapadon einen differenzierteren Pfad. Als partieller Agonist adressiert es selektiv die D1- und D5-Rezeptoren und vermeidet so die systemische Überstimulation dopaminerger Bahnen im Mittelhirn. Der Effekt ist weniger invasiv, aber dennoch klinisch signifikant – eine Gratwanderung, die in den vorgestellten Studien als gelungen bewertet wurde.

Derzeit wird Tavapadon in mehreren internationalen Studienprogrammen weiter untersucht, darunter auch in Kombination mit L-Dopa, um additive Effekte und Langzeitverläufe zu prüfen. Besonders interessant ist die potenzielle Rolle des Wirkstoffs in frühen Krankheitsphasen. Hier könnten Patienten profitieren, die auf L-Dopa noch verzichten möchten oder bei denen motorische Komplikationen durch klassische Agonisten befürchtet werden. Auch für ältere Patienten mit psychiatrischen Vorbelastungen eröffnet sich eine neue therapeutische Option, die bisherige Ausschlusskriterien teilweise überwindet.

Die Fachöffentlichkeit reagierte auf die Präsentation mit bemerkenswerter Aufmerksamkeit. Denn obwohl der therapeutische Fortschritt in der Parkinsonbehandlung über Jahrzehnte hinweg stark von L-Dopa geprägt war, hat sich zunehmend ein Bedarf nach verträglicheren und neurobiologisch gezielteren Alternativen herauskristallisiert. Der partielle Rezeptoransatz von Tavapadon steht sinnbildlich für diese neue Entwicklungsrichtung: weniger maximale Stimulation, dafür mehr funktionale Balance und weniger systemische Nebenwirkungen.

Noch ist Tavapadon nicht zugelassen. Der Hersteller kündigte jedoch an, die Datenbasis zügig zu erweitern und die regulatorischen Prozesse international zu beschleunigen. Die Aussicht auf eine neue Wirkstoffgruppe mit hohem klinischem Potenzial gilt in Fachkreisen als realistisch – und der Kongressauftritt als gelungener Auftakt in eine neue Phase der Parkinsontherapie.

Der Wirkstoff Tavapadon steht für einen Paradigmenwechsel in der medikamentösen Behandlung von Morbus Parkinson. Während viele Präparate der vergangenen Jahre entweder Weiterentwicklungen bestehender Rezeptoragonisten oder Kombinationen klassischer Wirkprinzipien darstellten, bricht dieser neue Vertreter mit dem dogmatischen Primat der D2-Stimulation – und das mit bemerkenswerter Eleganz. Denn nicht die Stärke der Aktivierung entscheidet über den therapeutischen Wert, sondern ihre Differenzierung.

Was Tavapadon so interessant macht, ist nicht nur die klinische Wirkung, sondern vor allem die konzeptionelle Klarheit seines Wirkprinzips. Die gezielte und partielle Ansteuerung von D1- und D5-Rezeptoren in ausgewählten Hirnarealen signalisiert einen Wandel im Verständnis dopaminerger Steuerung. Sie zielt nicht auf flächendeckende Erregung, sondern auf präzise funktionale Modulation. Dieser Unterschied ist entscheidend, wenn man die langfristige Verträglichkeit und Wirksamkeit einer Parkinsontherapie sichern will.

Es ist bemerkenswert, dass dieser Schritt gerade jetzt erfolgt – in einer Zeit, in der sich das Gesundheitssystem zunehmend auf personalisierte, verträglichkeitsorientierte Therapien zubewegt. Tavapadon könnte jene Lücke schließen, die zwischen frühen Symptomen und späten Komplikationen klafft – und damit den Verlauf der Erkrankung nicht nur symptomatisch glätten, sondern strukturell neu denken.

Gleichzeitig darf man den Stellenwert der aktuellen Studiendaten nicht überschätzen. Die gezeigten Effekte sind ermutigend, aber sie bleiben eingebettet in eine klinische Entwicklungsphase. Wie sich der Wirkstoff im realen Versorgungskontext behauptet, wird sich erst zeigen müssen. Die Erwartungen sind hoch, doch die Geschichte der Parkinsontherapie lehrt auch: Euphorie war selten ein guter Ratgeber.

Was nun folgt, ist weniger die Zulassungsfrage, sondern die klinische Einordnung. Tavapadon wird das therapeutische Repertoire erweitern, aber nicht revolutionieren. Entscheidend wird sein, ob sich der differenzierte Wirkmechanismus langfristig gegen die Robustheit bewährter Therapien durchsetzen kann – sowohl medizinisch als auch wirtschaftlich. Der Anfang ist gemacht. Nun ist das Gesundheitssystem gefragt, eine potenziell bedeutsame Innovation nicht durch Formalismus, Bürokratie oder Rabattlogik zu neutralisieren.

Die Parkinsontherapie steht an einer Schwelle. Tavapadon ist kein Wundermittel, aber ein intelligentes Angebot für mehr therapeutische Präzision. Es liegt an Forschung, Praxis und Politik, dieses Angebot sinnvoll zu integrieren.

 

FDA verbannt Fluorid-Präparate, Mikrobiom unter Verdacht, Trinkwasser-Debatte eskaliert

Neue US-Entscheidung beendet Fluorid-Gabe bei Kindern und stellt jahrzehntelange Praxis infrage

Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat eine grundlegende Entscheidung getroffen, die weitreichende Folgen für die Kinderzahnmedizin und die Fluoridpolitik in den Vereinigten Staaten haben dürfte. Verschreibungspflichtige Fluoridpräparate zur oralen Einnahme bei Säuglingen und Kleinkindern sollen vom Markt genommen werden. Die Begründung: Die Präparate bergen laut aktuellen Studien mehr Risiken als Nutzen, vor allem in Bezug auf die empfindliche Darmflora junger Kinder. Damit markiert die Entscheidung nicht nur eine Wende im Umgang mit Fluorid, sondern auch eine Abkehr von jahrzehntelang etablierten Präventionsstrategien.

Konkret betroffen sind konzentrierte Fluoridtabletten und Tropfen, die bislang vor allem zur Kariesprophylaxe verabreicht wurden – meist unabhängig davon, ob ein tatsächlicher Mangel bestand. Während der kariesprotektive Effekt bei lokaler Anwendung, etwa in Zahnpasta, als erwiesen gilt, wirken diese systemisch aufgenommenen Präparate direkt auf den Organismus. Genau darin sehen viele Forscher heute ein zentrales Problem. Neue Daten deuten darauf hin, dass Fluorid im Körper nicht nur Knochengewebe und Zähne erreicht, sondern auch in biochemische Regulationsmechanismen eingreift – darunter die Schilddrüsenfunktion und das sich entwickelnde Mikrobiom im Darm.

Erste Hinweise auf mögliche Nebenwirkungen existierten bereits seit Jahren. Doch mit einer wachsenden Zahl an Studien hat sich das Bild deutlich verschärft. Genannt werden unter anderem hormonelle Dysbalancen, eine veränderte Entwicklung kognitiver Funktionen sowie unerklärte Gewichtszunahme bei Kleinkindern. Besonders schwer wiegt die Tatsache, dass die betroffenen Fluoridpräparate nie eine formale Zulassung durch die FDA erhalten hatten – ein Umstand, der bislang unter der Oberfläche blieb. Nun zieht die Behörde eine klare Linie: Im Zweifel für die Sicherheit des Kindes, auch wenn der wissenschaftliche Konsens noch nicht vollständig hergestellt ist.

Dr. Marty Makary, seit 2025 als FDA-Chef im Amt, begründet den Schritt mit der Notwendigkeit, die Balance zwischen Prävention und möglichem Schaden neu zu definieren. Er verweist auf seine grundlegende Skepsis gegenüber pharmazeutischen Interventionen, die nicht ausreichend geprüft seien. „Der beste Schutz gegen Karies liegt nicht in der Manipulation des Mikrobioms, sondern in zuckerarmer Ernährung und konsequenter Zahnhygiene“, erklärt Makary. Seine Linie wird von Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. unterstützt, der den Präparatestopp als „überfällige Maßnahme im Interesse der Kindergesundheit“ bezeichnete.

Die FDA hat angekündigt, bis Ende Oktober eine öffentliche Kommentierungsphase zu eröffnen und parallel mit dem US-Gesundheitsministerium evidenzbasierte Leitlinien für Zahnpflege bei Kindern zu erarbeiten. Ziel sei ein präventivmedizinischer Ansatz, der auf lokale, nicht-systemische Maßnahmen setzt. Auch Bundesstaaten reagieren zunehmend: Einige haben bereits konkrete Schritte zur Beendigung der Trinkwasserfluoridierung eingeleitet, ein bisher in den USA weit verbreitetes Mittel zur Kariesprävention.

Während Länder wie Deutschland, Frankreich und Schweden Fluorid nie in flächendeckender Form dem Trinkwasser zusetzten, war diese Praxis in den USA jahrzehntelang nahezu Standard. Jetzt zeigen Studien, dass diese Strategie nicht nur unnötig, sondern möglicherweise schädlich gewesen sein könnte. Besonders kritisch bewerten Fachleute die Effekte auf das kindliche Gehirn, das sich im frühen Alter noch stark entwickelt und auf Umweltfaktoren besonders sensibel reagiert. Fluorid könnte hier – so der Vorwurf – zu Entwicklungsverzögerungen beitragen, insbesondere bei übermäßiger Zufuhr.

Die gesundheitspolitische Dimension der Entscheidung reicht über die Präparate hinaus. In der Konsequenz könnte auch die Trinkwasserfluoridierung bundesweit zurückgefahren oder ganz beendet werden. Dies wäre nicht nur eine medizinische, sondern auch eine kulturelle Zäsur – ein Abschied von einer Säule der amerikanischen Public Health. Makarys Vorstoß reiht sich damit ein in eine breitere Bewegung, die pharmaunabhängige Prävention in den Vordergrund rückt und individuelle Schutzmaßnahmen über kollektive Eingriffe stellt.

Für Eltern bedeutet das vor allem eines: mehr Verantwortung bei der Auswahl kindgerechter Zahnpflegeprodukte und eine Rückbesinnung auf grundlegende Hygieneregeln. Die Kinderzahnmedizin der Zukunft wird sich – so viel scheint sicher – stärker an ökologischen, mikrobiologischen und individuellen Faktoren orientieren.

Die Entscheidung der FDA, Fluoridpräparate für Kinder vom Markt zu nehmen, ist mehr als eine sicherheitstechnische Maßnahme – sie ist ein symbolischer Wendepunkt im Verhältnis zwischen Medizin, Politik und Öffentlichkeit. Jahrzehntelang galt Fluorid als unantastbare Säule präventiver Gesundheitsstrategien, eingeführt in einer Ära des blinden Fortschrittsglaubens. Doch die Logik hat sich verschoben. Die neue medizinische Realität fordert ein Umdenken, das auf Individualisierung, Mikrobiomanalyse und systemische Rücksichtnahme setzt. In dieser Perspektive erscheint der pauschale Einsatz von Fluorid nicht nur überholt, sondern medizinisch riskant.

Dass eine weltweit führende Gesundheitsbehörde diesen Schritt wagt, obwohl ein vollständiger wissenschaftlicher Konsens noch aussteht, ist Ausdruck einer neuen Vorsorgeethik. Die Schwelle zum Eingreifen wird nicht mehr nur durch erwiesene Schädlichkeit, sondern zunehmend durch das Prinzip der möglichen Gefährdung definiert. Gerade in der Kindermedizin, wo sich die Auswirkungen noch Jahrzehnte später zeigen können, ist dies ein notwendiger Paradigmenwechsel. Die FDA handelt in diesem Fall nicht vorschnell, sondern im besten Sinne präventiv.

Der Fall offenbart zudem einen blinden Fleck westlicher Gesundheitspolitik: die systemische Wirkung lokaler Maßnahmen. Fluorid in Zahnpasta wirkt an Ort und Stelle, doch Fluoridtabletten und fluoridiertes Trinkwasser wirken überall – auch dort, wo sie nie wirken sollten. Das Mikrobiom ist kein Zufallsprodukt, sondern eine hochkomplexe ökologische Einheit, deren Bedeutung für die Gesamtgesundheit erst langsam verstanden wird. Wer hier eingreift, ohne den langfristigen Effekt zu kennen, handelt nicht prophylaktisch, sondern fahrlässig.

Bemerkenswert ist auch der politische Kontext. Die Unterstützung von Gesundheitsminister Kennedy für die FDA-Linie ist nicht zufällig. Sie passt in eine größere gesundheitspolitische Erzählung, die staatliche Eingriffe kritisch hinterfragt und individuelle Gesundheitskompetenz in den Vordergrund stellt. Der Satz „Make America Healthy Again“ ist dabei mehr als eine Parole – er ist Ausdruck eines grundlegenden Misstrauens gegenüber überlieferten Strukturen und einem Ruf nach eigenverantwortlicher Medizin.

Natürlich darf man nicht übersehen, dass die Entscheidung auch wirtschaftlich motiviert ist. Die Zeit kostspieliger, wenig wirksamer Massenmedikation läuft ab. Stattdessen setzen Behörden und Verbraucher auf günstigere, risikoärmere Präventionsformen. Doch dies ist kein Rückschritt, sondern ein Fortschritt der Aufklärung. Ein Fortschritt, der nicht in neuen Wundermitteln liegt, sondern im Wissen, wann man besser nichts gibt. In der Medizin von morgen wird der Mut zur Zurückhaltung zum Maßstab ärztlicher Qualität. Die FDA hat diesen Maßstab nun gesetzt.

Von Engin Günder, Fachjournalist

 

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