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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |
Mit der verpflichtenden Einführung des E-Rezepts beginnt für Apotheken ein riskantes Zeitalter. Die neue digitale Infrastruktur bringt nicht nur Effizienz, sondern auch gravierende Sicherheitslücken, rechtliche Unsicherheiten und organisatorische Überlastung – ohne dass die Politik zeitgleich für Schutz oder klare Haftungsregelungen sorgt. Während Apotheken täglich mit Cyberrisiken, Haftungsfragen und überforderten Schnittstellen kämpfen, wächst auf Systemebene der Druck weiter. Das RWI warnt vor einer Abgabenlast von über 50 Prozent bis 2035, die das deutsche Sozialwesen wirtschaftlich destabilisieren könnte. Der neue AMNOG-Report belegt, dass eine kleine Zahl hochpreisiger Medikamente die Kassen finanziell aus dem Gleichgewicht bringt. Gleichzeitig erschüttert ein Dekret von Donald Trump die globale Arzneimittelpreisarchitektur: Die USA wollen zum Referenzmarkt für Niedrigpreise werden – mit massiven Konsequenzen für Europa. Parallel wächst der Druck durch Amazon im Tierarzneimittelbereich, Medikationsfehler bei vulnerablen Patientengruppen häufen sich, und die Umweltpolitik gerät beim Inhalatorenwechsel ins Zwielicht. Ein Bericht über ein Gesundheitssystem am Kipppunkt – zwischen digitalem Risiko, ökonomischem Kontrollverlust und wachsender internationaler Unwucht.
Digitale Angriffsfläche, alte Versicherungslücken, neue Haftung – Apotheken im Risiko-Zeitalter
Die Einführung des E-Rezepts macht Apotheken zu Zielscheiben – und offenbart gravierende Defizite bei der Absicherung.
Mit dem Start der verpflichtenden E-Rezept-Nutzung im Januar 2024 hat sich die Betriebswirklichkeit für Apotheken fundamental verändert. Die Maßnahme, politisch als Fortschritt gefeiert, hat eine technologische Zäsur erzeugt, die tief in bestehende Strukturen eingreift und dabei ein gravierendes Problem offenlegt: Apotheken sind digital angreifbar geworden – in einem Ausmaß, das viele unterschätzt haben. Wo früher Papier und persönliche Interaktion dominierten, regieren nun Datenströme, digitale Übermittlungsprozesse und vernetzte Systeme – ein Paradigmenwechsel, dessen Risiken bislang weder politisch flankiert noch versicherungstechnisch konsequent erfasst wurden. Was auf dem Papier nach Effizienz klingt, erweist sich in der Praxis als eine Belastungsprobe für Technik, Personal und Organisation – mit potenziell existenzgefährdenden Folgen.
Apotheken empfangen seither nicht nur digitale Rezeptdaten, sie speichern, verarbeiten und leiten sie weiter – innerhalb eines Systems, das permanent online sein muss, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Fehler in der Übertragung, veraltete Schnittstellen oder nicht eingespielte Updates führen regelmäßig zu Unterbrechungen. Retaxationen häufen sich, weil technische Pannen zu unvollständigen oder fehlerhaften Abrechnungen führen. In vielen Fällen fehlt es nicht an fachlicher Kompetenz, sondern schlicht an ausreichender Systemstabilität. Auch die zeitlichen Abläufe werden komplexer. Wenn ein Rezept nicht korrekt übermittelt wird oder das System beim Einlesen versagt, muss in einer laufenden Versorgungssituation improvisiert werden – unter Zeitdruck, mit haftungsrechtlichen Konsequenzen. Wer einen Patienten nicht beliefert, obwohl ein Rezept digital vorliegt, muss dies begründen können. Wer ihn beliefert und einen Eingabefehler begeht, riskiert Rückforderungen.
Besonders brisant ist die Lage im Bereich Datenschutz. Die Verarbeitung elektronischer Gesundheitsdaten unterliegt höchsten gesetzlichen Anforderungen. Schon kleine Verstöße – etwa beim Umgang mit mobilen Geräten, bei der Speicherung sensibler Daten auf ungesicherten Endgeräten oder bei unklaren Zugriffsrechten – können zu Meldepflichten, Bußgeldern oder zivilrechtlichen Klagen führen. Inhaberinnen und Inhaber haften persönlich, auch bei organisatorischen Versäumnissen. Die damit verbundene Verantwortung übersteigt vielfach die realistischen Handlungsmöglichkeiten kleiner Betriebe. Was im Großkonzern durch spezialisierte Datenschutzabteilungen abgesichert wird, lastet in der Apotheke auf wenigen Schultern – meist ohne externes Controlling, ohne klare Richtlinien, ohne technische Rückfallebenen.
Das Einfallstor für gravierendere Gefahren aber liegt im Bereich der IT-Sicherheit. Seit Einführung des E-Rezepts mehren sich Fälle von gezielten Angriffen auf Apothekeninfrastruktur. Die Kombination aus vernetzten Systemen, sensiblen Daten und unzureichendem Schutz macht Apotheken zu bevorzugten Zielen für Cyberkriminalität. Ransomware-Attacken, bei denen ganze Systeme verschlüsselt und nur gegen Zahlung eines Lösegelds wieder freigegeben werden, haben sich laut Branchenberichten vervielfacht. Parallel dazu steigen Phishing-Angriffe – etwa durch täuschend echte E-Mails vermeintlicher Systempartner, die dazu verleiten, Zugangsdaten einzugeben oder Malware zu installieren. Auch gezielte Übernahmeversuche durch Fernzugriff wurden mehrfach dokumentiert. Besonders alarmierend: Selbst kleine Betriebe im ländlichen Raum sind betroffen – die Angriffe sind automatisiert, flächendeckend und technisch hochentwickelt.
Die Folgen sind dramatisch. Kommt es zu einer Infektion, ist oft nicht nur das Apothekensystem betroffen, sondern auch die Verbindung zu Warenwirtschaft, Rechenzentrum und Rezeptabrechnung blockiert. Ein kompletter Stillstand kann mehrere Tage andauern – mit massiven Umsatzeinbußen, beschädigtem Vertrauen der Patienten und juristischen Konsequenzen. Wird ein Datenschutzverstoß festgestellt, drohen zusätzlich empfindliche Geldbußen. Wiederherstellungskosten, Forensik-Dienstleistungen und Kommunikationsmaßnahmen zur Schadensbegrenzung reißen finanzielle Lücken, die viele Betriebe nicht aus eigener Kraft kompensieren können.
„Viele Apotheken betreiben formal einen digitalen Betrieb, sind aber strukturell analog abgesichert“, warnt Versicherungsexperte Seyfettin Günder. Klassische Policen seien meist nicht auf hybride Gefahrenlagen ausgelegt, und viele Betriebe wüssten gar nicht, welche Ausschlüsse ihre Altverträge beinhalten. Die technische Modernisierung laufe den versicherungstechnischen Realitäten davon – mit wachsender Diskrepanz zwischen Risiko und Schutz.
Versicherungsexperten fordern deshalb seit Monaten ein Umdenken: Apotheken müssen strukturell auf digitale und physische Risiken vorbereitet sein – nicht nur technisch, sondern auch organisatorisch und finanziell. Der neue Risikomix aus physischen, haftungsrechtlichen und cyberbezogenen Gefahren erfordert eine hybride Absicherungsstrategie. Neben der klassischen Sach- und Betriebsunterbrechungsversicherung braucht es eine leistungsfähige Cyberpolice, die im Schadenfall sofortige Hilfe organisiert – inklusive IT-Forensik, juristischer Beratung, Datenrettung und Kommunikation mit Behörden. Ergänzend kann eine Vertrauensschadenversicherung Schutz bieten bei internen Verstößen, etwa durch fahrlässigen Umgang mit Zugriffsrechten oder bewusste Manipulation durch Personal.
Doch Absicherung endet nicht bei der Police. Auch auf der organisatorischen Ebene ist Handlungsbedarf offenkundig. In vielen Betrieben fehlen strukturierte Notfallpläne, regelmäßige Backups werden nicht getestet, Zugriffsrechte sind unklar verteilt. Schulungen finden, wenn überhaupt, punktuell statt. Gerade kleinere Apotheken stoßen an personelle und zeitliche Grenzen – der Aufbau einer echten digitalen Resilienz wird aufgeschoben oder scheitert am Budget. Politisch wurde das Problem bisher ignoriert. Zwar fordert die Regierung digitale Fortschritte, doch Sicherheitsstandards, Förderprogramme oder technische Leitlinien fehlen weitgehend. Apotheken werden als kritische Infrastruktur eingestuft, doch konkrete Unterstützungsmaßnahmen sucht man vergeblich.
Dabei ist die Bedrohungslage real – und mit jedem Monat E-Rezept-Praxis drängender. Es reicht nicht, Technik vorzuschreiben und Haftung zu delegieren. Wer Digitalisierung fordert, muss auch Verantwortung für die Absicherung übernehmen. Andernfalls droht eine gefährliche Dynamik: Je digitaler die Versorgung, desto verwundbarer das System – und desto höher das Risiko, dass einzelne Ausfälle auf die flächendeckende Versorgung durchschlagen. Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck – sie muss tragfähig, sicher und betriebswirtschaftlich machbar sein. Sonst wird aus dem technischen Fortschritt eine strukturelle Schwäche.
Die politische Forderung nach Digitalisierung im Gesundheitswesen war überfällig – das E-Rezept ist ein logischer Schritt. Doch die Art und Weise, wie dieser Wandel vollzogen wird, offenbart ein gefährliches Missverständnis: dass Digitalisierung per Gesetz verordnet werden könne, ohne gleichzeitig die Grundlagen für Sicherheit, Haftungsregelung und finanzielle Absicherung mitzudenken. Apotheken stehen nun in einem Spannungsfeld, das sie technologisch überfordern, organisatorisch überlasten und wirtschaftlich destabilisieren kann. Während Politik und Kassen über Schnittstellen, Standards und Systeme sprechen, tragen die Inhaberinnen und Inhaber das volle Risiko – und das weitgehend allein.
Die gegenwärtige Lage ist paradox. Apotheken werden als kritische Infrastruktur behandelt, unterliegen also höchsten Sicherheitsansprüchen – zugleich fehlt jede verbindliche Struktur, um sie tatsächlich gegen Ausfälle, Angriffe oder Datenverluste zu schützen. Was andernorts selbstverständlich wäre – etwa in Krankenhäusern, bei Banken oder Energieversorgern – bleibt im Apothekenwesen freiwillig, fragmentiert oder ganz ungeregelt. Sicherheitsarchitektur, Cyber-Resilienz, Wiederanlaufpläne? Fehlanzeige. Es herrscht eine gefährliche Schieflage: Die Pflicht zur Digitalisierung wurde eingeführt, aber die Pflicht zur Absicherung fehlt.
Versicherungsexperte Seyfettin Günder bringt es auf den Punkt: „Wir sehen eine gefährliche Schieflage – die Pflicht zur Digitalisierung wurde eingeführt, aber die Pflicht zur Absicherung fehlt.“ Diese Diagnose beschreibt nicht nur eine strukturelle Lücke, sondern benennt auch einen politischen Blindfleck. Der Staat verordnet Technik, erwartet Integration in nationale Infrastrukturen, überträgt Dokumentationspflichten und verwaltungstechnische Schnittstellen – übernimmt aber keine Verantwortung für die neuen Gefährdungslagen, die er damit erzeugt. Das Risiko digitaler Betriebsunterbrechung, die Haftung bei Datenschutzverstößen oder der Vertrauensverlust nach einem Cyberangriff: All das bleibt am einzelnen Betrieb hängen.
Diese Überforderung ist kein Nebenproblem. Sie betrifft mittlerweile die Stabilität des Versorgungssystems selbst. Wenn Apotheken durch Cyberangriffe, Systemfehler oder rechtliche Unsicherheiten in die Knie gehen, geht es nicht um Softwareprobleme – es geht um die Versorgung von Millionen Patientinnen und Patienten. Ein digitaler Systemfehler kann heute denselben Schaden anrichten wie früher ein Wasserschaden oder Stromausfall – nur dass die Eintrittswahrscheinlichkeit exponentiell steigt und die Folgekosten um ein Vielfaches höher sind. Wer heute eine Apotheke führt, braucht nicht nur pharmazeutisches Wissen, betriebswirtschaftliche Kompetenz und organisatorisches Geschick – sondern auch eine Sicherheitsstrategie auf IT-Niveau.
Es wäre deshalb naiv zu glauben, Apotheken könnten all das allein stemmen. Technische Absicherung, haftungsrechtliche Vorkehrungen, digitale Krisenpläne und spezialisierte Versicherungsstrukturen sind keine betriebliche Kür, sondern systemische Notwendigkeit. Die Vorstellung, dies könne jede Apotheke eigenverantwortlich und kostenneutral organisieren, ist illusorisch. Auch Fördermaßnahmen auf Antrag oder Einzelprojekte greifen zu kurz. Es braucht eine flächendeckende, standardisierte und staatlich mitgetragene Sicherheitsarchitektur – mit verpflichtenden Vorgaben, nachhaltiger Finanzierung und enger Kooperation mit der Versicherungswirtschaft.
Ein solcher Paradigmenwechsel muss präventiv angelegt sein. Es reicht nicht, nach einem Schadensfall Hilfe zu leisten. Die Politik darf sich nicht länger auf der Illusion ausruhen, die Digitalisierung sei mit der Einführung technischer Systeme abgeschlossen. Sie beginnt dort erst – mit den Fragen der Verantwortung, der Stabilität und des Schutzes. Apotheken dürfen nicht länger die stillen Träger eines Systemwandels sein, dessen Risiken sie allein schultern müssen. Wer digitale Prozesse erzwingt, muss auch digitale Resilienz garantieren.
Die Verantwortung für die Sicherheit digitaler Gesundheitsinfrastruktur ist keine betriebswirtschaftliche Randfrage – sie ist eine gesellschaftliche Kernaufgabe. Wenn Apotheken weiterhin das Rückgrat der Arzneimittelversorgung bilden sollen, brauchen sie Schutz – nicht nur vor analoger Zerstörung, sondern vor digitaler Verwundbarkeit. Es ist Zeit, diesen Schutz nicht länger dem Zufall oder dem Budget einzelner Betriebe zu überlassen. Denn was heute noch als technische Umstellung erscheint, kann morgen zum strukturellen Kollaps führen. Wer digitale Sicherheit fordert, muss sie auch ermöglichen. Und wer Versorgung sichern will, darf Verantwortung nicht outsourcen.
Medikationshistorie, Versandapotheken, Patientenschutz
Was die neue EPA in Apotheken sichtbar macht und was noch fehlt
Zwei Wochen nach der bundesweiten Einführung der elektronischen Patientenakte (EPA) zeigt sich ein differenziertes Bild in den Apotheken: Auf der einen Seite stehen neue Möglichkeiten zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit, auf der anderen Seite technische Grenzen, fehlende Einträge und ein erheblicher Aufklärungsbedarf aufseiten der Patientinnen und Patienten. Was als „Game Changer“ angekündigt wurde, entfaltet bislang nur punktuell seine Wirkung – und das unter Bedingungen, die den Alltag in Apotheken nicht selten erschweren statt erleichtern.
Ein Beispiel aus Berlin verdeutlicht die Situation: Eine Apothekerin berät ein älteres Ehepaar, beide Stammkunden, über zwei parallel verordnete Mittel gegen Nervenschmerzen. Beide Arzneimittel stammen von unterschiedlichen Fachärzten, eine Rücksprache mit der behandelnden Neurologin ist telefonisch nicht möglich. Die EPA könnte helfen, doch der Zugriff bleibt ihr trotz nicht gesperrter Freigabe verwehrt. Was digital vernetzt wirken soll, scheitert im konkreten Fall an einem funktionalen Defizit. Der Aufwand bleibt hoch, die Beratung komplex – und die EPA für diesen Moment wirkungslos.
Und doch gibt es Lichtblicke. Wenn die Versichertenkarte eingelesen und die Freigabe technisch funktional ist, erscheint die elektronische Medikationsliste (EML). Diese bietet Apotheken einen Überblick über alle eingelösten und offenen E-Rezepte, unabhängig davon, in welcher Apotheke sie eingelöst wurden. Besonders relevant wird das, wenn Patientinnen oder Patienten in anderen Apotheken Medikamente bezogen haben, etwa im Urlaub oder beim Arztbesuch mit Rezeptabgabe in einer benachbarten Apotheke. Plötzlich sind auch jene Therapielinien sichtbar, die vorher nur vermutet werden konnten. Die Arzneimitteltherapiesicherheit profitiert davon – theoretisch.
Rund 1,2 Millionen Medikationslisten werden laut Gematik derzeit täglich geöffnet. Die Digitalagentur sieht in der Nutzung einen bedeutenden Meilenstein für das Gesundheitssystem. Auch Apothekerinnen wie Anke Rüdinger, die selbst über Jahre Digitalisierungsbeauftragte des Deutschen Apothekerverbands war, erkennen das Potenzial. Ihre Rolle im Dialog mit der Gematik, aber auch mit Kolleginnen und Kollegen vor Ort macht deutlich, dass die EPA als Infrastrukturprojekt nicht nur Technik, sondern auch Erfahrung, Geduld und vor allem Kommunikation braucht.
In den TI-Modellregionen Hamburg, Franken und NRW läuft der EPA-Zugriff bereits seit Januar. Erste Praxiserfahrungen zeigen: Die Nutzung ist sinnvoll, aber mit Hürden verbunden. In Hamburg etwa verzeichnet Apothekerin Dorothee Michel in ihrer Eidelstedter Markt-Apotheke häufig Unklarheiten über Dosierungsangaben. Die einzige Schreibberechtigung der Apotheken besteht bislang in der Anpassung der Dosierung. Diese Informationen kann sie zwar in die Medikationsliste einpflegen, weitere Einträge – etwa zu rezeptfreien Arzneimitteln oder Betäubungsmitteln – sind jedoch nicht vorgesehen. Das ist mehr als eine Lücke. Es ist ein systemischer Schwachpunkt, der die Sicherheit der Medikation gerade bei komplexen Therapien mit potenziell gefährlichen Substanzen gefährdet. Die ABDA rechnet erst ab März 2026 mit der Erweiterung der Eintragsoptionen – zu spät, sagen viele Apothekerinnen und Apotheker.
Die Medikationsliste kann jedoch bereits heute mit Apothekensoftware verknüpft werden. Michels System erkennt beispielsweise potenzielle Doppelmedikationen oder Interaktionen zwischen Eisenpräparaten und Schilddrüsenhormonen. Die EML lässt sich zudem in bestehende AMTS-Software importieren, was insbesondere bei der erweiterten Medikationsberatung bei Polymedikation Zeit spart. Doch auch hier zeigt sich: Die strukturelle Umsetzung hängt von der Leistungsfähigkeit der jeweiligen Softwarelösungen ab, die bundesweit sehr unterschiedlich ist.
Ein weiterer Punkt sorgt für Unruhe: Viele Patientinnen und Patienten wissen gar nicht, dass sie eine EPA besitzen. In Hamburg wie in Berlin berichten Apotheken übereinstimmend, dass Aufklärung häufig erst im Beratungsgespräch erfolgt. Mancher Patient wundert sich, wenn plötzlich Wechselwirkungen thematisiert werden oder die Apotheke über Medikationen Bescheid weiß, die andernorts verordnet oder bezogen wurden. Doch in den meisten Fällen überwiegt die positive Resonanz. Der Zugewinn an Transparenz wird von vielen als Unterstützung wahrgenommen – sofern Vertrauen und Verständnis für die neuen Strukturen vorhanden sind.
Kritisch bleibt der Umgang mit Online-Rezepten und Versandapotheken. Die EML zeigt deutlich, wo und wann ein E-Rezept eingelöst wurde – zum Erstaunen mancher Apothekerinnen und Apotheker, die damit erstmals systematisch sichtbar machen können, wie oft Stammkundschaft auch andere Wege nutzt. In Hamburg fiel eine 20-zeilige Dauermedikation auf, die ein Patient vollständig bei einer Versandapotheke bestellt hatte – während er für ein einzelnes kühlpflichtiges Präparat in die Vor-Ort-Apotheke kam. Für Michel war das Anlass, neue Wege der Kundenbindung zu testen: Sie gibt betroffenen Patienten nun eine Visitenkarte mit QR-Code zur eigenen Bestell-App und Hinweis auf den Botendienst. Der Erfolg ist messbar: Mehr Bestellungen per App, weniger unsichtbare Abwanderung.
Langfristig zeigt die EPA damit doppelte Wirkung: Sie erhöht die Sichtbarkeit von Therapieverläufen und Kaufverhalten, zwingt aber zugleich Apotheken, neue Kommunikationsformen zu etablieren. Die EPA wird nicht nur als Instrument zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit verstanden, sondern zunehmend auch als strategische Schnittstelle zwischen analoger Beratung und digitaler Kundenbindung. Wo sie funktioniert, kann sie entlasten. Wo sie scheitert, offenbart sie die Grenzen eines fragmentierten Systems. Noch ist die EPA kein Game Changer – aber sie hat das Potenzial, einer zu werden.
Die elektronische Patientenakte wurde in den vergangenen Jahren als Schlüssel zur modernen, vernetzten und sicheren Gesundheitsversorgung inszeniert. Zwei Wochen nach dem bundesweiten Rollout wird klar: Der Schlüssel passt, aber viele Türen klemmen noch. Die EPA offenbart nicht nur technologische Defizite und mangelnde Nutzerschulung, sondern auch eine gesundheitspolitische Naivität, mit der Digitalisierung in Deutschland zu oft als Softwareproblem verstanden wird – und nicht als Strukturreform.
Dass die elektronische Medikationsliste im Apothekenalltag spürbare Vorteile bringt, ist unbestritten. Arzneimittelhistorien lassen sich nachvollziehen, potenzielle Interaktionen erkennen und Therapieverläufe präziser beurteilen. Doch wer glaubt, damit sei die Arzneimitteltherapiesicherheit auf ein neues Niveau gehoben, ignoriert die weißen Flecken im System: rezeptfreie Arzneimittel, Betäubungsmittel, Nahrungsergänzungsmittel – allesamt relevante Substanzen, deren Wirkung auf bestehende Therapien gravierend sein kann – bleiben bis mindestens 2026 außen vor. Das ist mehr als eine technische Versäumnis, es ist ein Risiko auf Kosten der Patienten.
Zudem zeigt sich, dass viele Apotheken mit der EPA doppelt belastet sind: Sie leisten nicht nur Beratung, sondern auch digitale Aufklärung. In der Praxis bedeutet das zusätzliche Gesprächszeit, Erklärarbeit und nicht selten Verunsicherung auf Patientenseite. Die EPA wird zur Schnittstelle zwischen Anspruch und Wirklichkeit – mit der Apotheke als Übersetzerin eines Systems, das seine eigene Komplexität nur unzureichend kommuniziert.
Besonders irritierend ist die geringe Sichtbarkeit der EPA in der öffentlichen Wahrnehmung. Während Bundesbehörden und Digitalagenturen medienwirksam von Fortschritt sprechen, wissen viele Bürgerinnen und Bürger gar nicht, dass sie eine EPA besitzen oder was sie darin finden. Damit verfehlt das Instrument eines seiner erklärten Ziele: die Stärkung der Gesundheitskompetenz. Digitalisierung im Gesundheitswesen braucht mehr als Schnittstellen – sie braucht Verständnis, Transparenz und Vertrauen.
Auch ökonomisch bleibt die EPA ambivalent. Apotheken erkennen zunehmend, dass sie mit der Medikationsliste nicht nur beraten, sondern auch Marktverhalten beobachten können. Die Sichtbarkeit von Versandapotheken in der EML verändert die Beziehung zur Stammkundschaft. Plötzlich wird greifbar, wie groß der stille Online-Anteil tatsächlich ist – und wie viel Potenzial in smarter, diskreter Kundenbindung steckt. Die Visitenkarte mit QR-Code, die Bestell-App oder der Botendienst sind keine Spielerei, sondern strategische Antworten auf eine digitale Realität, die Apotheken allzu lange ignoriert haben.
Die Frage, ob die EPA ein Game Changer ist, lässt sich deshalb nicht pauschal beantworten. Sie ist ein Katalysator – aber noch kein Systemwandler. Solange technische, rechtliche und organisatorische Lücken bestehen, bleibt ihr Nutzen begrenzt. Was fehlt, ist ein kohärentes Gesamtkonzept: eine EPA, die nicht nur Daten verwaltet, sondern Verantwortung strukturiert. Eine EPA, die Apothekerinnen nicht zu Bittstellern bei der Freigabe macht, sondern ihnen gezielte Zugriffsrechte einräumt. Eine EPA, die Patienten nicht überrumpelt, sondern informiert. Und eine EPA, die nicht allein als Infrastruktur gedacht wird, sondern als klinisches Werkzeug im Alltag.
Der bisherige Verlauf zeigt: Die EPA ist kein Fehler – aber sie ist unvollendet. Ihr Erfolg hängt nicht von weiteren Verlautbarungen der Gematik oder Ministerien ab, sondern von der Realität in den Apotheken. Dort entscheidet sich, ob die EPA zum digitalen Fremdkörper wird oder zum Werkzeug einer besseren Versorgung. Diese Verantwortung tragen die Apotheken – aber nicht allein. Sie brauchen Systeme, die halten, was sie versprechen. Und eine Politik, die erkennt, dass Digitalisierung kein Ziel ist, sondern ein Werkzeug, das nur wirkt, wenn es richtig eingesetzt wird.
Sozialabgaben, Kassenkrise, Deindustrialisierung
Deutschland droht eine Abgabenlast von über 50 Prozent – das RWI schlägt Alarm und warnt vor systemischem Kontrollverlust im Gesundheitswesen.
Deutschland steht an der Schwelle zu einer gefährlichen sozioökonomischen Verschiebung. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) warnt vor einem massiven Anstieg der Sozialabgabenquote auf über 50 Prozent bis zum Jahr 2035. Bereits heute liegt die Abgabenlast bei rund 42 Prozent – ein Wert, der die einst als unüberschreitbar geltende „Haltelinie“ von 40 Prozent überschreitet. Haupttreiber dieser Entwicklung ist das sich zuspitzende Missverhältnis zwischen den steigenden Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und den stagnierenden beitragspflichtigen Einnahmen. Das RWI schlägt Alarm: Ohne strukturelle Reformen drohen wirtschaftlicher Substanzverlust, sinkende Arbeitsbereitschaft und eine beschleunigte Deindustrialisierung.
Im Zentrum der Kritik steht die Dynamik der GKV-Zusatzbeiträge. Innerhalb weniger Quartale stieg der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz von 1,7 Prozent im Jahr 2024 auf 2,9 Prozent im zweiten Quartal 2025. Während die Leistungsausgaben der Kassen im Jahr 2024 um acht Prozent wuchsen, legten die beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder lediglich um 4,2 Prozent zu. Das Resultat: Ein Kassenloch von sechs Milliarden Euro – ergänzt durch ein Minus von vier Milliarden Euro im Gesundheitsfonds. Die Finanzierungslücke nimmt bedrohliche Ausmaße an, während politische Entscheidungen zu spät greifen. Die von SPD und CDU angestrebte Expertenkommission soll erste Ergebnisse erst 2027 vorlegen – ein Zeitplan, der angesichts der Dramatik realitätsfern erscheint.
Das RWI identifiziert eine Vielzahl struktureller Ursachen: eine international auffällig hohe Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, ineffiziente Patientensteuerung, ein steigender Bedarf an innovativen, kostenintensiven Therapien sowie die demografische Alterung. Die institutionellen Antworten auf diese Herausforderungen seien bislang halbherzig geblieben. In einer umfassenden „Gesundheitsagenda 2030“ formuliert das Institut deshalb konkrete Reformvorschläge. Sie sollen nicht nur kurzfristige Entlastung bringen, sondern langfristige Systemstabilität schaffen.
Ein zentrales Element ist ein verpflichtendes Primärarztsystem, das über eine digitale Leitstelle organisiert wird. Patientinnen und Patienten sollen künftig vor Facharztbesuchen ärztlich vorab triagiert werden, um medizinische Ressourcen gezielter einzusetzen. Parallel dazu soll die Notfallversorgung tiefgreifend reformiert und um eine digital gesteuerte, integrierte Rettungsdienststruktur ergänzt werden. Eine substanzielle Rolle in der Versorgung sollen künftig Pflegefachpersonen übernehmen – mit rechtlich verankerter Eigenverantwortung und Leistungskompetenz im Sozialgesetzbuch V. Damit würden Pflegekräfte nicht mehr nur als Zuarbeiter verstanden, sondern als eigenständige Versorgungseinheit in der ambulanten und stationären Versorgung.
Auch die Arzneimittelpreise geraten ins Visier der Ökonomen. Das RWI fordert eine Deckelung der Preise auf Grundlage ihres Nutzens, gemessen in qualitätsadjustierten Lebensjahren. So sollen nur noch solche Medikamente hochpreisig vergütet werden, die einen tatsächlichen quantifizierbaren Überlebensvorteil bieten. Die Maßnahme soll nicht nur Kosten dämpfen, sondern auch die Innovationsanreize in eine volkswirtschaftlich tragfähige Richtung lenken.
Parallel dazu plädiert das RWI für eine moderate Eigenbeteiligung der Versicherten bis maximal ein Prozent des beitragspflichtigen Einkommens. Das derzeitige Vollkasko-Prinzip in der Krankenversicherung sei weder finanzierbar noch effizient. Nur durch eine solche Begrenzung der Leistungserwartungen lasse sich die Anspruchsinflation dämpfen. Ergänzend fordert das Institut eine zukunftsfeste digitale Infrastruktur, insbesondere eine leistungsfähige elektronische Patientenakte (ePA), die durch KI-gestützte Analyseverfahren zur Risikofrüherkennung und Versorgungsoptimierung beitragen soll.
Ein letzter, aber nicht minder bedeutsamer Vorschlag ist ein Gesundheitssicherstellungsgesetz, das das deutsche Gesundheitswesen krisenresilient und verteidigungsfähig machen soll. Im Falle eines NATO-Bündnisfalls müsse die medizinische Versorgung lückenlos sichergestellt sein – ein Aspekt, den die Pandemie und geopolitische Spannungen in den Fokus gerückt haben.
Die Kostenexplosion im Gesundheitssystem ist kein Betriebsunfall, sondern Ergebnis politischer Passivität und fehlender Systemlogik. Die Mahnung des RWI ist deshalb mehr als ein ökonomischer Fingerzeig: Sie ist ein Appell zur politischen Verantwortung, die nicht länger auf die nächste Legislaturperiode verschoben werden darf. Denn je länger die strukturellen Korrekturen ausbleiben, desto härter wird der soziale und wirtschaftliche Preis sein.
Die Warnung des RWI kommt nicht überraschend, aber sie trifft mit beängstigender Klarheit ins Zentrum eines Systemversagens, das seit Jahren ignoriert wird. Der Anstieg der Sozialabgaben auf über 50 Prozent wäre nicht nur ein statistischer Wert – es wäre ein ökonomisches und gesellschaftliches Menetekel. Denn wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt, Unternehmen wandern ab und Beschäftigte resignieren, dann ist der Sozialstaat nicht nur teuer, sondern destruktiv. Die politisch versprochene soziale Sicherheit wird in ihr Gegenteil verkehrt.
Die zentrale Tragik liegt in der schleichenden Erosion des gesellschaftlichen Vertrages. Beitragspflichtige erleben Jahr für Jahr steigende Abzüge, während gleichzeitig das Leistungsversprechen erodiert. Arzttermine sind schwer zu bekommen, Pflegeplätze rar, die Arzneimittelversorgung prekär. In dieser Gemengelage ist die Forderung des RWI nach struktureller Systemkorrektur nicht radikal, sondern überfällig. Wer jetzt noch auf Kommissionen für 2027 setzt, betreibt Realitätsverweigerung.
Besonders folgenschwer ist die Verweigerung der Politik, an den systemischen Stellschrauben zu drehen. Die Idee, Pflegekräfte zu eigenständigen Leistungserbringern zu machen, ist nicht neu – aber sie wurde aus Standesgründen stets gebremst. Ein verpflichtendes Primärarztsystem? In der Ärzteschaft umstritten. Eine Preisgrenze bei Arzneimitteln? Der Lobbydruck der Pharmaindustrie ist immens. Doch genau diese Blockaden machen deutlich, dass die Reform nicht technokratisch, sondern politisch ist. Es geht nicht um Sachzwänge, sondern um Machtfragen.
Auch die Diskussion über Eigenbeteiligung muss endlich enttabuisiert werden. In einem System, das längst an seine finanzielle und strukturelle Leistungsgrenze stößt, ist ein begrenzter Selbstbehalt kein Akt der Härte, sondern ein Akt der Ehrlichkeit. Wer über Gerechtigkeit redet, muss auch über Finanzierbarkeit sprechen. Und wer den Sozialstaat bewahren will, muss ihn vom Ballast unbegrenzter Leistungsversprechen befreien.
Das Gesundheitswesen steht an einem Wendepunkt. Die Vorschläge des RWI bieten eine kohärente, ökonomisch durchdachte und gesellschaftlich zumutbare Agenda. Was fehlt, ist der politische Mut, sie umzusetzen. Wer weiter abwartet, riskiert nicht nur höhere Beiträge, sondern das Fundament des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es ist Zeit, das System vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und zwar jetzt – nicht 2027.
GKV unter Druck, Hersteller profitieren, Reform verpufft
Der neue AMNOG-Report zeigt ein System in Schieflage – Experten warnen vor Funktionsverlust der Kassen.
Die Arzneimittelausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung steigen weiter – und das trotz jahrelanger politischer Steuerungsversuche. Der am Dienstag vorgestellte AMNOG-Report 2025 der DAK-Gesundheit legt offen, wie eine kleine Zahl besonders teurer Medikamente die Finanzlage der Krankenkassen zunehmend destabilisiert. Das Kernproblem: Die Wirkungsmechanismen des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG), das 2011 eingeführt wurde, um die Preisbildung neuer Arzneimittel an ihren tatsächlichen Zusatznutzen zu koppeln, verfehlen zunehmend ihr Ziel. Die DAK spricht von einem gefährlichen Ungleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben und fordert von der neuen Bundesregierung eine grundlegende Neuausrichtung der Preisregulierung.
Im Jahr 2024 stiegen die Arzneimittelausgaben der GKV um 10,2 Prozent, während sich die Einnahmen nur um 5,7 Prozent erhöhten. Besonders ins Gewicht fallen dabei patentgeschützte Medikamente. Laut Report konzentrieren sich 35 Prozent aller Ausgaben auf die zehn Prozent der umsatzstärksten Präparate, wobei ein einziges Prozent der Medikamente für mehr als zehn Prozent der Gesamtausgaben verantwortlich ist. Das zeigt: Die Belastung durch wenige Hochpreisprodukte nimmt dramatisch zu, während Einsparinstrumente zunehmend verpuffen.
Die Analyse der DAK macht auch deutlich, dass neue Arzneimittel in der Regel nicht zu einer Verdrängung bestehender Therapien führen, sondern als zusätzliche Kostenblöcke im System verbleiben. 15,7 Prozent der patentgeschützten Ausgaben entfallen auf Neueinführungen seit 2021, 41 Prozent auf Wirkstoffe mit fünf bis zehn Jahren Markterfahrung. Eine Preisabsenkung über die Zeit erfolgt also nicht, vielmehr etabliert sich ein dauerhaft hohes Kostenniveau. Bei den Orphan Drugs haben sich die Ausgaben der DAK in fünf Jahren mehr als verdreifacht.
Der Krankenkassenverband kritisiert, dass sich viele Hersteller hohe Einstiegspreise durch die zunächst kleinen Zielgruppen genehmigen lassen und später durch Indikationserweiterungen schleichend größere Patientengruppen einschließen – ohne dass die Preisstruktur angepasst wird. Die Folge: Eine indirekte Kostenprogression, die politisch bisher kaum kontrolliert wird. Andreas Storm, Vorstandschef der DAK, fordert deshalb eine »echte AMNOG-Reform« mit klarer Koppelung an die Finanzentwicklung der GKV. Vorschläge wie dynamische Herstellerabschläge, die jährlich durch einen unabhängigen Schätzerkreis überprüft und angepasst werden könnten, sollen Planbarkeit schaffen und kurzfristig entlasten.
Ein weiteres Problemfeld betrifft die Wirkungslosigkeit der jüngsten Sparinstrumente. Der im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz verankerte Kombinationsabschlag sollte ursprünglich 185 Millionen Euro einsparen, erreichte laut DAK jedoch lediglich 22 Millionen. Auch die neu eingeführte Umsatzschwelle zur Vollbewertung von Orphan Drugs brachte statt der angepeilten 100 Millionen nur Einsparungen zwischen acht und 32 Millionen Euro. Nur die Rückwirkung des Erstattungsbetrags erzielte mit rund 100 Millionen Euro immerhin zwei Drittel der geplanten 150 Millionen, wobei die volle Zielmarke laut DAK noch erreicht werden könne.
Die Krankenkasse mahnt an, dass wesentliche Stellschrauben verlorengegangen sind. So endete im vergangenen Jahr der erhöhte Herstellerabschlag – laut DAK bislang das einzige Instrument mit nennenswertem Einsparpotenzial. Storm fordert deshalb einen dynamisierten Herstellerrabatt, der jährlich angepasst werden kann, um den Ausgabentrend wirksam zu bremsen. Ohne solche Schritte, so die Warnung, drohe dem System eine weitere Destabilisierung.
Professor Wolfgang Greiner, Gesundheitsökonom und Mitherausgeber des Reports, ergänzt, dass das AMNOG inzwischen von wachsender Komplexität und sinkender Planbarkeit geprägt sei. »Seit drei Jahren hat sich das System strukturell verheddert, ohne spürbare Effekte auf die Kostendynamik«, konstatiert Greiner. Aus seiner Sicht sei es fraglich, ob das AMNOG überhaupt noch der richtige Rahmen sei, um Ausgaben nachhaltig zu steuern. Stattdessen plädiert er für die politische Öffnung in Richtung Pay-for-Performance-Modelle sowie eine Debatte über neue Formen der Selbstbeteiligung.
Die DAK zeigt sich überzeugt, dass der politische Handlungsdruck nun immens ist. Der neue AMNOG-Report versteht sich als Weckruf an eine Regierung, die derzeit noch auf Zeit spielt. Angesichts eines Markts, in dem immer weniger Medikamente immer mehr Geld binden, könnten kosmetische Korrekturen nicht mehr genügen. Ohne strukturelle Eingriffe droht nicht nur eine finanzielle Überlastung der Kassen, sondern auch eine langfristige Gefährdung der solidarischen Versorgung. Eine Arzneimittelpolitik, die Preisdynamiken nicht kontrolliert, gefährdet laut DAK die Grundfesten des Gesundheitswesens.
Die wiederholten Mahnungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung verhallen seit Jahren im politischen Raum – der neue AMNOG-Report der DAK-Gesundheit zeigt jedoch unmissverständlich, dass das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Was einst als präzises Steuerungsinstrument für Arzneimittelpreise konzipiert war, ist heute ein überregulierter Papiertiger, dessen komplexe Struktur mehr Intransparenz als Kontrolle erzeugt. Die politisch gewollte Innovationsfreundlichkeit hat sich in eine wirtschaftliche Einbahnstraße verwandelt, in der einige wenige Hersteller mit immer kleineren Zielgruppen immer größere Marktanteile generieren – bei kaum regulierbarer Preisgestaltung.
Das Problem ist kein rein rechnerisches, sondern ein systemisches. Wenn ein Prozent aller Medikamente mehr als zehn Prozent der Ausgaben bindet, ist der Begriff der Risikostreuung im Versorgungssystem endgültig ad absurdum geführt. Die AMNOG-Logik – Nutzenbewertung, Verhandlung, Rabatt – mag in der Theorie elegant erscheinen, doch in der Praxis verfehlt sie ihre Wirkung immer häufiger. Gerade bei Orphan Drugs zeigt sich das Versagen deutlich: Eine ursprüngliche Schutzklausel wird zum Kosten-Trojaner, weil Indikationsausweitungen die Zielgruppe systematisch vergrößern, ohne dass die ursprüngliche Preiskalkulation korrigiert wird.
Hinzu kommt eine Reformpolitik, die sich in symbolischen Korrekturen erschöpft. Die Maßnahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes haben weder den intendierten Spareffekt noch die nötige Lenkungswirkung erzielt. Die DAK spricht von Einsparlücken in dreistelliger Millionenhöhe – bei ohnehin überhitzter Ausgabenseite. Dass nun auch der erhöhte Herstellerabschlag wegfällt, gleicht einer Selbstentwaffnung des Systems. Wer Planbarkeit propagiert, aber die letzten wirksamen Instrumente abschafft, betreibt keine Stabilisierung, sondern betreibt Verschleierung.
Was fehlt, ist der Mut zu einem echten Neustart. Ein dynamischer Herstellerrabatt, gekoppelt an die reale Einnahmeentwicklung der GKV, ist kein radikaler Vorschlag, sondern eine logische Konsequenz aus den Defiziten des bisherigen Systems. Auch die Forderung nach Pay-for-Performance-Modellen und einem neuen Umgang mit Selbstbeteiligungen verdient eine ernsthafte politische Debatte – nicht als ideologisches Tabu, sondern als realistische Strategie angesichts explodierender Arzneikosten.
Die Solidargemeinschaft ist kein Selbstbedienungsladen. Wenn Innovation zum Selbstzweck verkommt, verliert sie ihre Legitimation. Es liegt nun an der neuen Bundesregierung, nicht nur kosmetisch nachzusteuern, sondern strukturell umzudenken. Wer nicht handelt, riskiert mehr als ein paar Prozentpunkte im GKV-Haushalt. Er riskiert das Vertrauen in ein Versorgungssystem, das sich aus der Balance verabschiedet hat – und das sich diesen Verlust auf Dauer nicht leisten kann.
Janosch Dahmen führt, Kappert-Gonther kehrt zurück, Heitmann wird vollwertig
Die Grünen stellen ihr neues Gesundheitsteam im Bundestag auf und setzen dabei auf Erfahrung und innerfraktionelle Kontinuität.
Die Grünen haben in ihrer Fraktionssitzung die personellen Weichen für den Gesundheitsausschuss des 21. Deutschen Bundestages gestellt. Fünf Mitglieder und vier Stellvertreterinnen und Stellvertreter sollen künftig die gesundheitspolitische Linie der Partei im parlamentarischen Kerngremium prägen. An der Spitze steht der Berliner Arzt Janosch Dahmen, der als gesundheitspolitischer Sprecher der Fraktion seit Jahren eine prägende Stimme im politischen Diskurs ist. Dahmen, der bereits in der vergangenen Legislaturperiode das gesundheitspolitische Profil der Grünen geschärft hatte, bleibt damit der bestimmende Taktgeber für gesundheitspolitische Initiativen innerhalb der Fraktion.
Neben Dahmen gehören Simone Fischer, Linda Heitmann und Johannes Wagner dem Ausschuss künftig als ordentliche Mitglieder an. Wagner, selbst Mediziner und bisher stellvertretender Vorsitzender im Unterausschuss Globale Gesundheit, steigt damit in die erste Reihe der Gesundheitspolitik auf. Auch Linda Heitmann rückt auf: Sie war in der vorangegangenen Legislaturperiode lediglich stellvertretendes Ausschussmitglied. Ihre Beförderung in den festen Ausschusskreis ist Ausdruck der gestiegenen Bedeutung ihres gesundheits- und suchtpolitischen Engagements, das sie insbesondere im Bereich Prävention und öffentlicher Gesundheitsdienst profiliert hat.
Kirsten Kappert-Gonther, langjährige gesundheitspolitische Akteurin und frühere stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, vervollständigt das Quintett. Ihre erneute Berufung in den Ausschuss unterstreicht die grüne Strategie der Kontinuität in zentralen gesundheitspolitischen Fragen. Kappert-Gonther gilt als verbindende Figur zwischen gesundheitspolitischer Praxisnähe und psychiatrischer Versorgungsperspektive und bringt als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie eine breite Erfahrung ein.
Auf der Ebene der stellvertretenden Mitglieder setzt die Fraktion ebenfalls auf gesundheitliche Fachkompetenz und disziplinäre Vielfalt. Die Ärztin Paula Piechotta, bekannt für ihre Positionen zu Krankenhausreform und evidenzbasierter Versorgungspolitik, gehört ebenso zum Kreis wie der Rheinland-Pfälzer Armin Grau, ebenfalls Arzt und profilierter Vertreter einer sozialmedizinisch orientierten Gesundheitspolitik. Ergänzt wird das Stellvertreterteam durch die Tierärztin Ophelia Nick, die sich insbesondere in Fragen der One-Health-Strategie und Antibiotikareduktion positioniert hat, sowie durch die Sozialarbeiterin Sylvia Rietenberg, die den Zugang zu Gesundheitsleistungen für vulnerable Gruppen zu ihrem Schwerpunkt gemacht hat.
Die grüne Ausschussbesetzung zeigt eine klare Stoßrichtung: Fachlichkeit vor Parteikarriere, inhaltliche Tiefe vor taktischer Personalpolitik. Die Fraktion verzichtet auf Experimente und setzt auf ein personelles Fundament, das die Gesundheitspolitik der Partei auch in unübersichtlichen Debattenlagen stabil tragen kann. In einer Legislaturperiode, die voraussichtlich erneut von Reformfragen, Versorgungsengpässen, digitalen Transformationsprozessen und Finanzierungskrisen geprägt sein wird, kann dies als bewusste Rückversicherung gelesen werden. Die Grünen scheinen bereit zu sein, auch unter veränderten Mehrheitsverhältnissen im Bundestag eine gestaltungsfähige gesundheitspolitische Handschrift zu zeigen.
Die neuen und alten Mitglieder stehen damit vor einer Vielzahl von Herausforderungen: Neben der Aufarbeitung pandemiepolitischer Lehren stehen Fragen zur sektorenübergreifenden Versorgung, zur Finanzierung gesetzlicher Krankenversicherungen und zu einer sinnvollen Einbindung telemedizinischer Angebote im Fokus. Auch die Reform der Krankenhausstruktur, die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung sowie die Rolle der Apotheken als wohnortnahe Gesundheitsdienstleister werden die Arbeit des Ausschusses bestimmen. Nicht zuletzt wird die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit im Gesundheitssystem, von Präventionsstrategien bis zur Pflegefinanzierung, zu einem Testfall für die strategische Klarheit der neuen grünen Ausschussformation.
Die personelle Aufstellung der Grünen im Gesundheitsausschuss des Bundestages ist kein revolutionärer, aber ein konsequenter Schritt. Die Fraktion hat erkannt, dass Gesundheitspolitik mehr denn je Stabilität und Fachkompetenz verlangt – beides Merkmale, die sich durch ihre aktuelle Besetzung ziehen. Mit Janosch Dahmen bleibt ein medien- und debattenerfahrener Gesundheitspolitiker an der Spitze, der in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie mit klaren Positionen und einer sachlich-medizinischen Perspektive hervorgetreten ist. Es ist kein Zufall, dass sich die Grünen unter seiner gesundheitspolitischen Leitung zu einer verlässlich agierenden Stimme innerhalb der Regierungskoalition entwickelt haben – oft mit eigener Linie, aber selten im Widerspruch zur Realität des Gesundheitssystems.
Die Rückkehr von Kirsten Kappert-Gonther in den Ausschuss bringt nicht nur Expertise aus der psychischen Gesundheitsversorgung ein, sondern auch politische Erfahrung im parlamentarischen Mikrokosmos. Gerade ihre analytische Schärfe und ihr unaufgeregter Stil könnten in einer Zeit, in der Populismus auch in gesundheitspolitischen Debatten an Boden gewinnt, wichtiger sein als je zuvor. Die Aufwertung von Linda Heitmann und Johannes Wagner zu ordentlichen Mitgliedern signalisiert zudem eine langfristig angelegte Strategie: Wer sich als stellvertretendes Mitglied bewährt, wird gefördert – ein Prinzip, das personelle Verlässlichkeit über parteitaktische Rotation stellt.
Was auffällt, ist die dichte medizinische Fachverankerung des gesamten Teams. Ärzte, Tierärztin, Sozialarbeiterin – das ist mehr als ein buntes Tableau. Es ist die bewusste Entscheidung, Gesundheitspolitik nicht als PR-Feld für Parteikarrieren zu nutzen, sondern als ernsthafte Gestaltungsaufgabe. Dass dies ausgerechnet in einer Phase geschieht, in der die Ampel-Koalition mit wachsender innerer Reibung und abnehmender politischer Steuerungsfähigkeit zu kämpfen hat, ist kein Zufall. Die Grünen suchen Halt in der Fachlichkeit – und könnten gerade deshalb handlungsfähiger bleiben als andere.
Gleichzeitig ist das Team aber kein Signal für grundlegenden Aufbruch. Die Ausschussbesetzung spiegelt die derzeitige politische Lage: kontrollierte Kontinuität, keine überzogenen Versprechen, aber auch kein erkennbarer Impuls, der über den bestehenden gesundheitspolitischen Rahmen hinausweist. In einer Situation, in der etwa die Krankenhausreform ins Stocken geraten ist, die Digitalisierung schleppend vorankommt und die Apotheken unter massiven strukturellen Belastungen leiden, wäre auch eine klare Zukunftsvision notwendig gewesen. Diese bleibt aus – vorerst. Es bleibt die Hoffnung, dass die personelle Qualität des grünen Gesundheitsteams sich nicht nur in der Ausschussarbeit zeigt, sondern auch in einer neuen Ernsthaftigkeit bei der Umsetzung konkreter Versorgungsverbesserungen. Dass die Grünen dazu in der Lage wären, steht außer Frage. Die politische Realität wird zeigen, ob sie es auch tun.
Trump setzt Arzneipreise unter Druck, EU droht Versorgungskrise, Hersteller schlagen Alarm
US-Dekret zwingt Pharmabranche zu globaler Neuausrichtung, Europa muss sich auf höhere Preise und Lieferverzögerungen einstellen
Mit der Unterzeichnung eines neuen Dekrets zur Senkung der Arzneimittelpreise hat Donald Trump eine international folgenreiche Dynamik ausgelöst. Der frühere US-Präsident plant, die Vereinigten Staaten zur globalen Referenz für Niedrigpreise zu machen – mit unmittelbaren Konsequenzen für Europa und insbesondere für Deutschland. Die Maßnahme beruft sich auf das Prinzip der „Meistbegünstigten Nation“: Die USA sollen für bestimmte verschreibungspflichtige Medikamente künftig nicht mehr zahlen als andere Industrienationen mit dem niedrigsten Preisniveau. Was in Trumps Worten als Schutz der amerikanischen Patienten verkauft wird, ist in Wahrheit ein Frontalangriff auf das bislang international abgestimmte Gleichgewicht pharmazeutischer Preissysteme.
Die neuen Vorgaben sollen unter anderem durch das Handelsministerium und die Arzneimittelbehörde FDA umgesetzt werden. Direktimporte aus weiteren Industriestaaten, politische Interventionen gegen ausländische Preismodelle und mögliche Exportbeschränkungen sind Teil des umfassenden Pakets. Innerhalb von 30 Tagen soll das US-Gesundheitsministerium konkrete Ziele formulieren, um Verhandlungen mit der Pharmaindustrie zu forcieren. Ein Scheitern dieser Gespräche könnte weitere regulatorische Eingriffe nach sich ziehen – ein Szenario, das bereits jetzt weltweit Unruhe auslöst.
Trump spart bei der Begründung seines Vorgehens nicht mit Schuldzuweisungen. Während er die Pharmakonzerne als „gezwungene Akteure“ beschreibt, richtet sich seine eigentliche Kritik gegen europäische Staaten, allen voran Deutschland. Diese seien Nutznießer eines unfairen Systems, das über niedrigere Preise im Inland letztlich von amerikanischer Zahlungsbereitschaft profitiere. Besonders drastisch äußert sich Trump zur Rolle der EU, die sich in Verhandlungen „unverschämter als China“ verhalte. Die implizite Botschaft: Wenn Europa nicht mehr mitspielt, dann müsse es auch mehr bezahlen.
Die Reaktionen auf das Dekret lassen nicht lange auf sich warten. Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) warnt vor einem globalen Strukturbruch. Ohne die Einnahmen auf dem US-Markt, so Präsident Han Steutel, seien Forschung, Entwicklung und innovative Therapien auch in Europa nicht länger finanzierbar. Eine international durchgesetzte Niedrigpreisreferenzierung würde die wirtschaftliche Basis pharmazeutischer Innovation zerstören. Die Folge könnten Verzögerungen bei Markteinführungen in Europa oder gar ein vollständiger Rückzug sein. Simon-Kucher & Partners bestätigt in einer Analyse, dass Standortentscheidungen, Investitionen und Preisstrategien bereits jetzt neu kalkuliert werden.
Besonders stark betroffen dürfte Deutschland sein. Durch seine traditionell niedrigen Arzneimittelpreise ist es für Hersteller bereits heute wirtschaftlich weniger attraktiv. Der neue US-Druck könnte dazu führen, dass Firmen noch vorsichtiger agieren, um keine Referenzpreise zu setzen, die dann weltweit auf sie zurückfallen. Schon jetzt berichten Apotheken, dass neue Produkte mit Verzögerung eingeführt werden oder ganz ausbleiben. Die Strategie: lieber gar nicht listen, als einen günstigen Preis öffentlich zu machen, der später in den USA als Maßstab dient.
Die Bundesregierung steht dieser Entwicklung weitgehend machtlos gegenüber. Zwar bekräftigt die Grünen-Politikerin Paula Piechotta die Bedeutung eines transparenten, nicht-geheimen Preissystems in Deutschland – doch auch sie warnt vor möglichen Preisanstiegen und härteren Verhandlungen auf europäischer Ebene. Der Standort Europa könne durch das neue Gleichgewicht attraktiver für Produktion und Investitionen werden, aber nur unter der Bedingung, dass Preisstabilität nicht geopfert werde. In ihren Worten schwingt die Ahnung mit, dass Trumps Maßnahmen mehr als ein wirtschaftspolitisches Signal sind – sie markieren eine tektonische Verschiebung der globalen Gesundheitsökonomie.
Deutlicher äußert sich Thomas Preis, Präsident der ABDA. Für ihn ist das Dekret nicht nur eine US-amerikanische Innenpolitik, sondern eine offene Kampfansage an Europas Versorgungssystem. Deutschland, so Preis, sei ohnehin schon am unteren Ende der Preisspanne, oft gebe es daher Lieferengpässe und Versorgungsdefizite. Wenn nun noch weitere preisbedingte Rückzüge drohten, werde die Situation kritisch. Deutschland „guckt in die Röhre“, so seine drastische Formulierung – gemeint ist die Rolle als Schlusslicht in der weltweiten Verteilung von Innovation und Versorgungssicherheit.
Im Zentrum der neuen US-Strategie stehen Medikamente mit besonders großen Preisunterschieden. Zwar wurden noch keine konkreten Produktgruppen genannt, doch Branchenbeobachter gehen davon aus, dass vor allem innovative Biopharmazeutika, Onkologika und neuartige Therapien betroffen sein werden – also genau jene, deren Preisgestaltung für Forschungsstandorte entscheidend ist. Die internationale Arzneimittelarchitektur steht damit unter massivem Druck. Europa muss sich entscheiden: Will es Innovationsmotor bleiben oder sich dauerhaft in eine Abhängigkeit von politisch gesetzten globalen Preisgrenzen begeben?
Donald Trumps neuerlicher Versuch, das globale Gleichgewicht im Pharmasektor zu destabilisieren, ist mehr als eine innenpolitische PR-Nummer. Er ist Ausdruck eines systemischen Machtanspruchs, der die internationalen Regeln des Gesundheitsmarktes radikal neu definieren will. Die Argumentation, US-Patienten vor überhöhten Preisen zu schützen, klingt auf den ersten Blick plausibel. Doch dahinter steckt ein geopolitisches Kalkül: Wer die Preise weltweit diktiert, kontrolliert die Innovationsströme. Die USA wollen nicht mehr Zahler der Forschung sein – sondern Schiedsrichter der Rentabilität.
In dieser Logik ist Europa nicht Partner, sondern Gegner. Deutschland wird in Trumps Rhetorik zum Symbol für ein „sozialistisches“ System, das sich auf Kosten anderer bequem eingerichtet hat. Das mag sachlich falsch sein, trifft aber emotional einen Nerv, der politisch mobilisierbar ist. Die EU-Staaten geraten dadurch in ein Dilemma: Entweder sie akzeptieren höhere Preise und riskieren eine Kostenexplosion im Sozialwesen – oder sie verlieren den Zugang zu neuen Therapien, weil Hersteller sich aus dem Markt zurückziehen. Beides wäre ein Scheitern europäischer Arzneipolitik.
Noch gefährlicher ist die Illusion, die Trump verbreitet: Dass man durch bloße Importfreigaben und Dekrete ein globales Preisniveau senken kann, ohne strukturelle Kollateralschäden zu erzeugen. Die Innovationskette in der Pharmaindustrie ist fragil. Sie hängt von Investitionssicherheit ab – und von verlässlichen, planbaren Einnahmen. Wenn aber der größte Markt der Welt plötzlich seine Preise an den jeweils billigsten Anbieter koppelt, wird die Kalkulationsbasis zerstört. Wer heute ein neues Medikament entwickelt, denkt künftig zweimal, ob sich der Aufwand noch lohnt.
Besonders prekär ist die Situation für Deutschland. Die bestehenden Lieferengpässe, der Spardruck bei den Krankenkassen und die chronische regulatorische Überforderung der Apotheken zeigen bereits, wie anfällig das System ist. Wenn nun zusätzlich von außen das Preismodell torpediert wird, verschärft sich die Lage dramatisch. Schon jetzt sind Verzögerungen bei innovativen Arzneien Alltag. In Zukunft könnte Deutschland schlichtweg übergangen werden – zu unwichtig, zu unattraktiv, zu billig.
Die politische Antwort darauf müsste europäisch sein. Doch von einem gemeinsamen, durchsetzungsstarken EU-Arzneimittelmarkt ist Europa weit entfernt. Nationale Einzelstrategien, Rabattverträge und sektorale Preisfestsetzungen dominieren. Das macht den Kontinent verwundbar – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesundheitspolitisch. Trumps Vorstoß sollte daher nicht unterschätzt werden. Er ist der Lackmustest für die strategische Handlungsfähigkeit Europas im Gesundheitsbereich.
Wenn Europa seine pharmazeutische Souveränität behalten will, braucht es eine Kurskorrektur: mehr Transparenz, gemeinsame Preispolitik, weniger Abhängigkeit von Drittstaaten. Sonst entscheidet nicht Brüssel oder Berlin über den Zugang zu Innovation – sondern Washington.
Amazon, Vetsource, Tierrezepte
Verschreibungspflichtige Tierarzneien jetzt online – Amazon greift Apothekenmarkt in den USA an
Der US-amerikanische Online-Riese Amazon weitet seine Geschäftstätigkeit im Gesundheitsbereich weiter aus und nimmt nun verschreibungspflichtige Tierarzneimittel ins Sortiment auf. Wie das Unternehmen mitteilt, wird der neue Service in Zusammenarbeit mit der auf Veterinärpharmazie spezialisierten Plattform Vetsource realisiert. Der Schritt markiert eine strategisch bedeutsame Erweiterung des Angebots für Heimtierhalter und birgt gleichzeitig potenzielle Auswirkungen auf die traditionelle Apothekenlandschaft. Im Zentrum steht die Möglichkeit, gängige rezeptpflichtige Tiermedikamente nun über den gewohnten Amazon-Bestellprozess direkt nach Hause zu bestellen – unter Einhaltung regulatorischer Voraussetzungen wie Rezeptprüfung und Arzneimittelzulassung.
Kundinnen und Kunden in den Vereinigten Staaten können künftig verschreibungspflichtige Medikamente für ihre Haustiere digital auf Amazon bestellen. Voraussetzung ist die Vorlage eines gültigen tierärztlichen Rezepts, das in den Bestellprozess integriert wird. Nach Angaben des Unternehmens wird Vetsource den Prozess der Rezeptverifizierung und Medikamentenversendung vollständig übernehmen. Der Einstieg in dieses Marktsegment sei Teil der Bestrebung, den Tierbedarf umfassend und zeiteffizient abzudecken – von Futter und Zubehör bis hin zu medikamentöser Versorgung. Amazon spricht dabei bewusst vom »Sorgenabbau« für Tierhalter, die sich zunehmend eine einfache, schnelle und sichere Versorgung ihrer Vierbeiner wünschten.
Im praktischen Ablauf bedeutet das: Das tierärztlich ausgestellte Rezept wird über die Amazon-Plattform in den digitalen Warenkorb gelegt. Im Rahmen des Bezahlvorgangs sind die Daten des verschreibenden Tierarztes einzugeben. Vetsource übernimmt daraufhin die Kommunikation mit der Praxis, prüft die Rezeptgültigkeit und veranlasst anschließend den Versand aus einer von mehreren zertifizierten Apotheken innerhalb des US-Netzwerks. Nach erfolgreicher Erstverordnung können Folgebestellungen sogar ohne erneute Kontaktaufnahme zum Tierarzt erfolgen – vorausgesetzt, das ursprüngliche Rezept deckt die Nachbestellungen ab. Die Lieferzeit beträgt laut Anbieterangaben zwischen zwei und sechs Tagen.
Die Auswahl der verfügbaren Medikamente umfasst laut Amazon-Mitteilung hunderte der in den USA am häufigsten eingesetzten verschreibungspflichtigen Präparate im Bereich Veterinärmedizin, darunter Mittel gegen chronische Krankheiten, Schmerzbehandlungen sowie klassische Floh- und Zeckenprophylaktika. Alle angebotenen Medikamente verfügen über eine FDA-Zulassung. Parallel zum Ausbau des Sortiments plant das Unternehmen, die Integration der Rezeptprozesse weiter zu automatisieren und die Benutzerführung für Tierhalter zu vereinfachen. Die Initiative könnte mittelfristig als Blaupause für den möglichen Eintritt in weitere Märkte dienen – etwa im Bereich rezeptpflichtiger Humanarzneimittel.
Für Vetsource bedeutet die Kooperation mit Amazon einen enormen Reichweitengewinn. Die Plattform, die bislang überwiegend als White-Label-Dienstleister für Tierarztpraxen agierte, übernimmt in dieser Konstellation nicht nur die technische Infrastruktur zur Rezeptverarbeitung, sondern auch die pharmazeutisch-logistische Verantwortung. Damit positioniert sich Vetsource als zentraler Intermediär zwischen Tierarzt, Haustierhalter und Plattformanbieter. Der Schritt ist Ausdruck einer neuen Rollenverteilung im Gesundheitsmarkt, bei der traditionelle Akteure wie Vor-Ort-Apotheken zunehmend durch digitale Lieferketten verdrängt werden – insbesondere dann, wenn regulatorische Schranken niedriger ausfallen als im humanmedizinischen Bereich.
Die US-Tierarzneimittelmärkte sind ein lukratives Segment, das bislang nur punktuell digital erschlossen wurde. Mit dem Einstieg von Amazon könnte sich dieser Markt fundamental wandeln. Kritiker sehen in der Initiative ein weiteres Beispiel dafür, wie Plattformunternehmen unter Umgehung traditioneller Strukturen Marktmacht akkumulieren. Zwar unterliegt auch die Abgabe von Tierarzneimitteln der Aufsicht der US-Behörden, doch die Anforderungen an Dokumentation, Beratung und persönliche Übergabe sind in der Veterinärmedizin oftmals weniger restriktiv als bei Humanarzneien. Dadurch entsteht eine Grauzone, in der digitale Anbieter erheblich leichter Fuß fassen können.
Inwieweit die Initiative auf andere Länder übertragbar ist, bleibt offen. In Deutschland unterliegt die Abgabe verschreibungspflichtiger Tiermedikamente deutlich strengeren Vorschriften. Insbesondere der Versand rezeptpflichtiger Präparate ist nur unter eng gefassten Bedingungen zulässig. Eine ähnliche Kooperation zwischen einer Plattform wie Amazon und einem pharmazeutischen Dienstleister wäre hierzulande derzeit kaum umsetzbar, ohne die bestehende Apothekenpflicht für rezeptpflichtige Arzneimittel zu durchbrechen. Dennoch beobachten Marktbeobachter auch in Europa eine zunehmende Öffnung der Tierarzneimittelmärkte für digitale Anbieter – nicht zuletzt durch den Wunsch vieler Tierhalter nach niedrigeren Preisen, weniger Wartezeiten und bequemer Versorgung.
Amazon selbst hat sich bislang nicht zu einer möglichen Internationalisierung der neuen Funktion geäußert. Auch aus Deutschland ist keine Stellungnahme zur Relevanz der neuen US-Initiative bekannt. Die Entwicklung dürfte dennoch aufmerksam verfolgt werden – nicht nur von Tierhaltern, sondern auch von Apotheken, Kammern und Aufsichtsbehörden, die den Schutz pharmazeutischer Versorgung als öffentliches Gut begreifen. Der Einstieg eines globalen Plattformunternehmens in die rezeptpflichtige Tiermedizin verschärft die Debatte über die Regulierung digitaler Gesundheitsangebote. Die Konkurrenz im Markt der Tierarzneimittel ist damit auf einem neuen Niveau angekommen.
Amazon dringt mit chirurgischer Präzision in die letzten Rückzugsräume klassischer Versorgungssysteme ein. Die Aufnahme verschreibungspflichtiger Tiermedikamente in das Sortiment des US-Onlineriesen ist nicht bloß eine betriebswirtschaftliche Expansion, sondern ein paradigmatischer Eingriff in ein bislang nur teil-digitalisiertes Marktsegment. Was auf den ersten Blick wie ein pragmatischer Service für Tierfreunde erscheint, offenbart sich bei näherer Betrachtung als systemischer Angriff auf die traditionellen Mechanismen von Kontrolle, Beratung und Verantwortlichkeit im Arzneimittelwesen.
Dass Amazon die komplexe Rezeptpflicht ausgerechnet mit einem spezialisierten Partner wie Vetsource umgeht, ist kein Zufall. Der Tech-Konzern will nicht mit Regulatorik kämpfen, sondern sie technisch neutralisieren. Vetsource ist dabei mehr als ein bloßer Abwickler – es ist das Pharmaportal im Hintergrund, das Amazon erlaubt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: die Kundenbeziehung, die Daten, die wiederkehrende Nachfrage. Die pharmazeutische Kompetenz wird ausgelagert, aber nicht aufgegeben – sie wird unsichtbar gemacht. Die Apotheke verschwindet nicht, sie wird nur neu formatiert: cloudbasiert, automatisiert, API-gesteuert.
Dabei ist bemerkenswert, wie geräuschlos dieser Machtwechsel vollzogen wird. Der Tierarzt bleibt als Rezeptgeber eingebunden, doch seine Rolle endet am Bildschirm. Die Versorgung erfolgt algorithmisch, der Kontakt zu pharmazeutischem Fachpersonal wird zur optionalen Kulisse. Beratung? Nur wenn notwendig. Aufklärung? Nur, wenn sie nicht stört. Was bleibt, ist ein optimierter Logistikpfad – ein medizinisches Amazon-Prime für Haustiere.
Für Apotheken bedeutet diese Entwicklung mehr als Konkurrenz – sie ist eine narrative Niederlage. Denn sie zeigt, wie tief sich das Bedürfnis nach Bequemlichkeit, Kontrolle und direkter Lieferung in die Versorgungslogik eingeschrieben hat. Die Tiermedizin ist dabei nur ein Testfeld. Der nächste Schritt könnte die Humanmedizin sein. Und wenn Plattformen erst gelernt haben, wie Rezepte systematisch und legal über Drittanbieter integriert werden, dann ist der Sprung ins reguläre Arzneimittelgeschäft nicht mehr weit.
In Deutschland wird man versucht sein, diese Entwicklung als US-spezifisch abzutun. Doch das wäre naiv. Auch hierzulande ringen Apotheken um Anschluss an digitale Prozesse, um Sichtbarkeit und um Vertrauen. Währenddessen zeigen Plattformen, wie man Gesundheitsversorgung als Service denkt – nicht als Profession, sondern als Prozess. Der entscheidende Unterschied liegt nicht in der Technik, sondern im Anspruch: Apotheken wollen Versorgung sichern, Plattformen wollen sie skalieren.
Was heute als Innovation gefeiert wird, könnte sich morgen als Erosion erweisen – nicht nur der Apotheke, sondern auch der Idee, dass Gesundheit mehr ist als ein Produkt mit Versandoption.
Psychotropika, Interaktionen, Fehlerkaskade – Medikationsanalyse im Grenzbereich
Eine Patientin verliert Gewicht, Ruhe und Stabilität – und niemand merkt es rechtzeitig
Die 74-jährige Patientin war über viele Jahre wegen einer depressiven Symptomatik in hausärztlicher Behandlung. Seit kurzem häuften sich jedoch die Berichte von Familienangehörigen über starke Unruhe, plötzlich auftretende Aggressionen und eine rapide Gewichtsabnahme. Die Medikation umfasste unter anderem Mirtazapin zur Nacht, ein Benzodiazepin bei Bedarf, ein niedrig dosiertes Neuroleptikum sowie ein Antihypertensivum. Bei einer routinemäßigen Überprüfung der Medikation durch die betreuende Apotheke ergaben sich massive Hinweise auf eine problematische Polypharmazie mit potenziell schwerwiegenden Nebenwirkungen.
Die Kombination von Mirtazapin mit einem neuroleptisch wirksamen Medikament ohne klare Indikationsstellung, gepaart mit der regelmäßigen Einnahme eines Benzodiazepins, verstärkte sowohl die Sedierung als auch paradoxe Reaktionen wie Reizbarkeit und motorische Unruhe. Der Gewichtsverlust – über acht Kilogramm in drei Monaten – wurde zunächst als psychisch bedingt gedeutet, obwohl Mirtazapin typischerweise eher appetitsteigernd wirkt. Ein genauer Blick auf die Begleitmedikation zeigte jedoch, dass ein Wechsel von einem Betablocker auf ein Diuretikum mit zentraler Wirkung ebenfalls zeitgleich erfolgt war. Dieser Austausch war in der Hausarztpraxis dokumentiert, aber pharmakologisch nicht ausreichend reflektiert worden.
Im Rahmen der Medikationsanalyse kam auch ans Licht, dass die Patientin zwischenzeitlich ein Johanniskrautpräparat auf eigene Initiative abgesetzt hatte, das zuvor über Jahre zur Stimmungsstabilisierung beigetragen hatte. Dieser Umstand war der ärztlichen Praxis unbekannt geblieben. Die Apotheke initiierte daraufhin ein ausführliches Gespräch mit der Patientin und ihrer Tochter. Es wurde ein strukturierter Bericht erstellt, der die potenziellen Wechselwirkungen, kumulativen sedierenden Effekte und Risiken der bestehenden Medikation darlegte. Der Bericht wurde an die betreuende Hausarztpraxis übermittelt.
Die Reaktion war zunächst defensiv. Erst nach weiteren zwei Wochen – und einem neuerlichen Zwischenfall, bei dem die Patientin in der Nachbarschaft randalierte – wurde eine psychiatrische Begutachtung angeordnet. Dort wurde eine akute dekompensierte Depression mit agitierter Komponente diagnostiziert. Die Medikation wurde vollständig neu eingestellt, darunter eine Umstellung auf Venlafaxin, eine niedrig dosierte atypische Antipsychotikatherapie sowie der vorsichtige Entzug des Benzodiazepins. Parallel wurde eine engmaschige ambulante Betreuung durch ein multiprofessionelles Team eingeleitet.
Rückblickend zeigte sich, dass die Apotheke mit der Medikationsanalyse eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Ohne das strukturierte Screening und die gezielte Kommunikation wäre die Eskalation der Symptome möglicherweise als rein psychosozialer Verfall gedeutet worden. Dass die pharmakologische Konstellation ursächlich mitverantwortlich war, wurde erst durch die differenzierte Analyse deutlich. Gerade bei älteren Patientinnen mit Vorerkrankungen und polypharmazeutischer Behandlung kann eine solche Analyse entscheidend zur Gefahrenabwehr beitragen.
Die Fallanalyse wirft ein grelles Licht auf die Versorgungspraxis vieler chronisch psychisch erkrankter Menschen: Hausärzte sind häufig allein mit der Medikation betraut, Rückmeldungen aus Apotheken fehlen oft, die Kommunikation mit Angehörigen ist sporadisch. Dabei könnte gerade der pharmazeutische Blick Lücken schließen, die andere Berufsgruppen nicht sehen. Die patientenindividuelle Betrachtung – gerade im Hinblick auf zentrale Wirkstoffe, ihre Wirkfenster, Interaktionen und potenzielle psychiatrische Nebenwirkungen – ist essenziell für die sichere Arzneimitteltherapie.
Dieser Fall zeigt mit erschreckender Klarheit, wie aus ärztlicher Routineversorgung eine therapeutische Sackgasse werden kann – und welche stille Sprengkraft in einer fehlgesteuerten Medikation liegt. Was auf den ersten Blick wie ein psychosozialer Abwärtstrend erscheint, entpuppt sich unter analytischem Blick als Fehlerkaskade mit pharmakologischer Brisanz. Die Patientin war nicht nur depressiv, sie war pharmakologisch destabilisiert, medikamentös überfrachtet, ohne koordinierende Führung und ohne erkennbare Strategie für eine wirksame Behandlung.
Dass ausgerechnet die Apotheke zur Schlüsselfigur in diesem Szenario wurde, ist kein Zufall – sondern Ausdruck eines Systemversagens, das zugleich Potenziale birgt. Denn während ärztliche Versorgung häufig fragmentiert bleibt und auf Symptome reagiert, erlaubt die Medikationsanalyse einen vernetzten Blick auf das Ganze. Sie deckt auf, was zwischen den Verordnungen verloren geht: Wechselwirkungen, kumulative Wirkstoffeffekte, unbeachtete Absetzungen, die schleichend zur Katastrophe führen.
Doch diese Fallanalyse offenbart mehr als nur den Wert pharmazeutischer Kompetenz. Sie zeigt auch, wie schwer es ist, mit diesem Wissen Gehör zu finden. Der erste Bericht der Apotheke verhallte ungehört – erst der öffentliche Zwischenfall veranlasste eine Reaktion. Es stellt sich die Frage: Warum müssen Patientinnen erst randalieren, bevor ihre Medikation überprüft wird? Warum wird pharmazeutisches Wissen immer noch zu selten in die klinische Entscheidungsfindung integriert? Die Antworten liegen im strukturellen Machtgefälle zwischen ärztlicher Verordnungshoheit und pharmazeutischer Verantwortung.
Was es braucht, ist keine neue Debatte über Zuständigkeiten, sondern ein gemeinsames Verständnis davon, was Medikationssicherheit wirklich bedeutet: nicht Kontrolle, sondern Kooperation. Apothekerinnen und Apotheker können viel – aber sie müssen auch dürfen. Die Medikationsanalyse war in diesem Fall kein „Service“, sondern ein Eingriff in eine fehlerhafte Routine. Sie war therapeutisch, weil sie eine Wende ermöglichte. Der Fall mahnt: Die Arzneimitteltherapiesicherheit beginnt nicht mit dem Rezept – sie beginnt mit dem Zuhören, dem Hinschauen, dem Intervenieren. Und manchmal mit der einzig richtigen Frage: Warum wirkt es nicht – oder schlimmer: Warum wirkt es so?
Die Lehre aus diesem Fall ist unbequem, aber notwendig: Medikationsanalyse ist kein Zusatzangebot, sondern medizinische Notwendigkeit. Sie ist nicht bloß pharmazeutisches Handwerk, sondern klinische Ethik. Und sie beginnt – immer – mit dem Zweifel.
Erster Inhalator ohne Norfluran, PFAS-Gefahr bleibt, Umweltpolitik in der Grauzone
Die MHRA erlaubt klimafreundlicheres Treibgas – doch ausgerechnet die „Ewigkeitschemie“ ersetzt CO₂-Killer
Großbritannien hat als eines der ersten Länder Europas grünes Licht für eine neue Generation von Inhalatoren gegeben, die in der Therapie chronisch obstruktiver Lungenerkrankungen (COPD) zum Einsatz kommen und zugleich den CO₂-Fußabdruck senken sollen. Das Besondere an der am 12. Mai 2025 von der britischen Arzneimittelbehörde MHRA zugelassenen Variante des Dosieraerosols Trixeo Aerosphere®: Sie verzichtet auf das bislang verwendete, extrem klimaschädliche Treibgas Norfluran und setzt stattdessen auf HFO-1234ze(E), auch bekannt als (E)-1,3,3,3-Tetrafluorpropen. Eine Maßnahme, die von der Regierung in London als umweltpolitischer Fortschritt bewertet wird – allerdings nicht ohne neue Risiken.
Trixeo Aerosphere®, ein Kombinationspräparat aus Formoterol, Budesonid und Glycopyrronium, wird in der Dauerbehandlung von Erwachsenen mit mittelschwerer bis schwerer COPD eingesetzt. Die klassische Darreichungsform basiert auf einem Druckgasmechanismus, der die Wirkstoffe als feinverteilte Aerosole in die Atemwege transportiert. Bisher kam hierfür das Fluorkohlenwasserstoffgas Norfluran zum Einsatz, chemisch 1,1,1,2-Tetrafluorethan, das über ein Treibhauspotenzial verfügt, das rund 1.430-mal so hoch ist wie das von CO₂. In der Summe tragen fluorierte Treibgase dieser Art erheblich zur Erderwärmung bei, obwohl sie mengenmäßig in der Medizin einen eher kleinen Anteil ausmachen.
Mit dem Wechsel auf HFO-1234ze(E) wird nun erstmals eine Substanz verwendet, die deutlich klimaverträglicher ist – zumindest auf dem Papier. Die MHRA verweist auf ein Treibhauspotenzial nahe null, andere technische Quellen beziffern den Wert auf etwa sieben. Im Vergleich zu Norfluran ist das eine massive Reduktion. Die Umstellung gilt damit als wichtiger Baustein, um die Umweltbilanz inhalativer Arzneimittel zu verbessern, zumal allein im Vereinigten Königreich rund 1,2 Millionen Menschen regelmäßig solche Inhalatoren verwenden. Hochgerechnet auf den Jahresverbrauch könnten damit etliche Tonnen CO₂-Äquivalente eingespart werden.
Die Maßnahme ist politisch erwünscht und wird durch das britische Gesundheitsministerium gestützt. Ministerin Karin Smyth spricht von einem "bedeutenden Schritt zur klimafreundlichen Arzneimittelversorgung", der zugleich die Innovationskraft der pharmazeutischen Industrie unter Beweis stelle. Dass die Umstellung von Norfluran auf HFO-1234ze(E) weit mehr ist als ein kosmetisches Manöver, unterstreicht auch die Tatsache, dass das neue Produkt bereits in der zweiten Jahreshälfte auf dem Markt eingeführt werden soll – zunächst in Großbritannien und Nordirland.
Doch die neue Lösung hat ihre Schattenseiten. HFO-1234ze(E) ist – wie sein Vorgänger – eine perfluorierte Alkylverbindung, kurz PFAS. Diese Substanzklasse ist unter Chemikern und Umweltforschern längst als problematisch eingestuft: Ihre extrem stabile Struktur macht PFAS nahezu biologisch nicht abbaubar, weshalb sie auch als "Ewigkeitschemikalien" bekannt sind. Einmal freigesetzt, verbleiben sie über Jahrzehnte in der Umwelt, reichern sich in Böden, Gewässern und Lebewesen an – mit noch unzureichend erforschten Langzeitfolgen. Während das akute Klimapotenzial der neuen Substanz deutlich geringer ist, bleibt ihr ökologisches Erbe unklar.
Die Diskussion darüber, ob mit dieser Substitution ein echter Fortschritt erzielt wurde oder lediglich ein Austausch von Risiken stattfand, ist unter Fachleuten noch nicht abgeschlossen. Denn auch wenn die Emission von Treibhausgasen reduziert wird, bleibt die Belastung durch persistente Chemikalien bestehen. Das wirft nicht nur umweltmedizinische, sondern auch ethische Fragen auf. Zudem könnten neue Entsorgungsprobleme auf Apotheken, Krankenhäuser und Hersteller zukommen, sollten künftige Regelungen den Umgang mit PFAS in Medizinprodukten weiter verschärfen.
Aus europäischer Sicht ist die Entwicklung im Vereinigten Königreich bemerkenswert. Während Brüssel an einem umfassenden PFAS-Regulierungsrahmen arbeitet und erste Verbote bereits greifen, geht London einen pragmatischeren Weg: Reduktion des Klimaschadens unter Beibehaltung akzeptierter Chemikalienrisiken. Die Frage, ob dieser Weg langfristig tragfähig ist, bleibt offen. In Deutschland und anderen EU-Staaten wäre eine vergleichbare Zulassung derzeit nur schwer vorstellbar – auch weil die Umwelttoxikologie von HFO-1234ze(E) noch nicht abschließend bewertet ist. Dennoch wird die Entwicklung mit Interesse beobachtet, denn die Umstellung auf klimafreundlichere Inhalatoren gilt als zentrales Ziel moderner Gesundheitspolitik.
Mit der Zulassung des modifizierten Trixeo Aerosphere® steht nicht nur ein neues Arzneimittel, sondern ein symbolträchtiges Produkt vor dem Markteintritt. Es steht für den Versuch, medizinischen Fortschritt, Umweltverantwortung und industrielle Innovationskraft in Einklang zu bringen – unter den Bedingungen einer immer komplexer werdenden regulatorischen Landschaft. Dass dabei alte Probleme nicht zwangsläufig verschwinden, sondern in neuer Form auftreten, gehört zur Ambivalenz pharmazeutischer Modernisierung. Der neue Inhalator mag klimafreundlicher sein, unschädlich ist er deshalb noch lange nicht.
Der Verzicht auf Norfluran im neuen Trixeo Aerosphere® mag auf den ersten Blick als Durchbruch in Sachen Klimaschutz erscheinen – doch die Euphorie trügt. Die Entscheidung der britischen Arzneimittelbehörde MHRA markiert weniger einen echten Systemwandel als vielmehr eine symptomatische Verschiebung von Risiken. Ein starkes Treibhausgas wird ersetzt, ja – aber durch eine Substanz, die ihrerseits unter den Verdacht fällt, Umwelt und Gesundheit auf andere Weise langfristig zu belasten. Der politische Gestus dieser Zulassung ist klar: Fortschritt zeigen, Emissionszahlen verbessern, Innovation signalisieren. Doch die ökologische Realität ist weit weniger eindeutig.
Denn das neue Treibgas HFO-1234ze(E) ist zwar deutlich klimafreundlicher als Norfluran, aber nach wie vor ein PFAS – also Teil jener chemischen Substanzklasse, die als nahezu nicht abbaubar gilt, sich weltweit in Organismen und Ökosystemen anreichert und von der Wissenschaft immer stärker als stille Bedrohung erkannt wird. Die Debatte über die sogenannte Ewigkeitschemie hat sich zuletzt intensiviert – und zwar nicht ohne Grund. Der britische Alleingang steht damit exemplarisch für die systemische Blindstelle moderner Arzneipolitik: Es wird technisch substituiert, aber nicht strukturell hinterfragt. An die Stelle eines problematischen Treibmittels tritt ein anderes, das zwar kurzfristig Emissionen reduziert, aber langfristig womöglich toxikologisch unkalkulierbar ist.
Diese Logik erinnert an frühere Fehler in der Umweltpolitik: Erst ersetzte man FCKW durch HFCKW, dann durch HFKW – und erkannte viel zu spät, dass jedes neue Molekül seine eigene Problemgeschichte schrieb. Nun scheint sich diese Substitutionsspirale in der Pharmazie fortzusetzen. Anstatt die Chance zu nutzen, inhalative Therapieformen grundsätzlich neu zu denken – etwa durch treibgasfreie Systeme oder alternative Applikationsformen –, wird erneut eine technische Minimallösung bevorzugt. Und wieder wird der Eindruck erweckt, die Industrie habe geliefert, die Politik sei fortschrittlich, das Problem gelöst. Nur: das ist es nicht.
Auch dass der politische Applaus in Großbritannien so laut ausfällt, wirft Fragen auf. Die Ministerin für Gesundheit spricht von einem Meilenstein – dabei fehlt für die neue Substanz noch jede Langzeitstudie zur ökologischen Persistenz, zur Toxizität bei chronischer Exposition, zur kumulativen Wirkung im menschlichen Körper. Gerade bei einem inhalativen Arzneimittel, das regelmäßig und über Jahre angewendet wird, ist diese Datenlücke ein systemisches Risiko. Der Umstand, dass das neue Treibgas formal weniger klimaschädlich ist, reicht nicht aus, um von einem ökologischen Fortschritt zu sprechen. Die Reduktion auf CO₂-Äquivalente als alleinige Bewertungsgrundlage greift zu kurz – und blendet die eigentliche Gefahr systematisch aus.
Hinzu kommt ein irritierender Aspekt: Die Entscheidung zur Zulassung fällt zu einem Zeitpunkt, da die Europäische Chemikalienagentur gemeinsam mit mehreren EU-Staaten weitreichende Verbote für PFAS in Konsumgütern vorbereitet. Während Brüssel also über den Ausstieg aus der Ewigkeitschemie debattiert, setzt London ein gegenteiliges Signal. Der mögliche Verlust regulatorischer Kohärenz zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU verschärft nicht nur die politische Spannung, sondern schwächt auch die Umweltposition Europas im globalen Maßstab. Pharmaunternehmen könnten künftig gezielt Standorte wählen, an denen neue Produkte mit geringerem regulatorischen Risiko eingeführt werden können – ein gefährlicher Trend, der eine politische Harmonisierung in der Arzneimittelzulassung erneut erschwert.
Der neue Trixeo-Inhalator ist damit kein Beweis für ökologische Innovation, sondern Ausdruck eines regulatorischen Zielkonflikts. Klimaschutz und Chemikalienpolitik werden gegeneinander ausgespielt, statt miteinander gedacht. Die Idee, Umweltpolitik auf Molekülebene zu betreiben, scheitert genau an solchen Entscheidungen. Wer tatsächlich eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung gestalten will, muss mehr liefern als molekulare Teillösungen mit PR-wirksamem Anstrich. Es braucht endlich einen integrativen Blick auf Pharmaprodukte, der Wirkstoff, Applikation, Material, Entsorgung und Langzeitfolgen als Einheit betrachtet. Sonst bleibt auch der vermeintlich grüne Fortschritt nichts weiter als ein Inhalator mit eingebautem Risiko.
Nagelpilz ist keine Altersfrage, sondern ein Alltagsrisiko
Wie Sport, Kosmetik und Hygienegewohnheiten zur Mykose führen – und warum Geduld der wichtigste Wirkstoff ist
Nagelpilzerkrankungen gelten gemeinhin als typisches Leiden älterer Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Gefäßproblemen. Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Auch junge, sportlich aktive oder kosmetisch engagierte Menschen können betroffen sein – oft unbemerkt und mit hohem Leidensdruck. Dabei sind Nagelmykosen kein kosmetisches Problem, sondern eine medizinisch relevante Infektion, die Geduld, Disziplin und ein strukturiertes Behandlungskonzept erfordert. Der Apothekenalltag zeigt: Die Bandbreite der Betroffenen ist größer als gemeinhin angenommen – ebenso wie die Herausforderungen in Beratung, Therapieauswahl und Nachsorge.
Zu den klassischen Risikofaktoren zählen Stoffwechselerkrankungen wie Typ-2-Diabetes, chronisch-venöse Insuffizienz und pAVK, die das Nagelwachstum beeinträchtigen und das Eindringen von Pilzsporen begünstigen. Auch Alter und eingeschränkte Mobilität spielen eine Rolle. Doch der Blick in die Realität zeigt: Ein junger, sportlich aktiver Patient mit Veränderungen an mehreren Zehennägeln kann ebenso betroffen sein – und das ganz ohne Vorerkrankungen. Sportarten wie Fußball oder Leichtathletik führen durch ständige Belastung, Stopps, Reibung und Mikrotraumata zu winzigen Verletzungen im Nagelbereich, die einen idealen Eintrittspunkt für Dermatophyten bieten. Wird dazu noch regelmäßig in geschlossenen Schuhen geschwitzt, entstehen feuchtwarme Milieus, in denen Pilze prächtig gedeihen.
Auch kosmetische Präferenzen bergen Risiken. Künstliche Fingernägel – insbesondere bei unzureichender Pflege oder undichter Verklebung – können zur Brutstätte für Pilze werden. Zwischen Naturnagel und aufgesetztem Material bildet sich ein Zwischenraum, der bei mangelnder Hygiene zur Pilzkolonie werden kann. Gerade gepflegt wirkende Hände können dann paradoxerweise das Gegenteil einer gesunden Nagelstruktur bedeuten. Dass auch Personen mit gutem Hygienebewusstsein betroffen sein können, zeigt die diagnostische Praxis: Nicht jede weißliche Verfärbung oder Brüchigkeit ist gleich eine Pilzinfektion, doch der Verdacht sollte abgeklärt werden – denn eine unbehandelte Mykose kann sich ungehindert ausbreiten.
In den meisten Fällen handelt es sich bei den Erregern um Dermatophyten, seltener auch um Hefen oder Schimmelpilze. Die Prävalenz steigt mit dem Alter, doch eine sichere Differenzialdiagnose ist unerlässlich – denn auch Psoriasis, Ekzeme oder ein Krummnagel können ähnliche Symptome hervorrufen. Vor allem im Apothekenumfeld besteht hier die Verantwortung, nicht zu verharmlosen, sondern Betroffene zur ärztlichen Abklärung zu motivieren – auch mit Blick auf die oft langwierige Therapie.
Ist die Diagnose gestellt, stellt sich die Frage nach der geeigneten Therapie. Hier unterscheidet die medizinische Leitlinie je nach Schweregrad: Leichte bis mittelschwere Erkrankungen – bei denen maximal drei Nägel betroffen sind oder die Befallsfläche 40 Prozent nicht überschreitet – können im Rahmen der Selbstmedikation behandelt werden. Dabei kommen ausschließlich topische Präparate zum Einsatz, etwa mit Amorolfin, Bifonazol, Ciclopirox oder Terbinafin. Diese können als Lacke oder in Kombination mit Harnstoff zur atraumatischen Entfernung des befallenen Nagelmaterials angewendet werden. Entscheidend ist die Konsequenz der Anwendung: Bei wasserlöslichen Lacken ist tägliche Applikation erforderlich, wasserunlösliche Varianten müssen vor jeder neuen Anwendung vollständig entfernt werden. Die Behandlungsdauer liegt zwischen sechs und zwölf Monaten – eine Zeitspanne, die im Beratungsgespräch offen benannt werden sollte.
Bei mittelschweren bis schweren Verläufen ist die Selbstmedikation keine Option. Hier empfehlen sich systemische Therapien, etwa mit Terbinafin oder Itraconazol, die ärztlich verordnet werden müssen. In bestimmten Fällen ist auch eine Kombination aus systemischer und topischer Anwendung sinnvoll. Apotheken können in solchen Fällen wichtige Hinweise zur Therapieadhärenz, Wechselwirkungen und Geduld mit dem Heilungsverlauf geben – denn Nagelmykosen verschwinden nicht über Nacht.
Ist die Infektion überwunden, beginnt die eigentliche Herausforderung: das Rezidiv zu vermeiden. Denn Pilzsporen können sich lange in Schuhen, Strümpfen und sogar auf Handtüchern halten. Die wichtigste Präventionsmaßnahme ist daher ein durchdachtes Hygienekonzept. Dazu gehört das gründliche Abtrocknen der Füße – insbesondere der Zehenzwischenräume – nach jedem Kontakt mit Wasser, gegebenenfalls auch mit dem Föhn. Schuhe sollten im Tagesverlauf gewechselt werden, um die Feuchtigkeitsentwicklung zu reduzieren. Die Desinfektion des Schuhwerks, idealerweise mit geeigneten Mitteln, ist ebenso essenziell wie die ausschließliche Nutzung eigener Handtücher. Was viele vergessen: Auch ein unbehandelter Fußpilz kann die Ursache für einen neuen Nagelbefall sein – entsprechend sollte jeder Verdacht frühzeitig behandelt werden.
Für Apotheken eröffnet sich damit ein breites Feld individueller Beratungsmöglichkeiten. Entscheidend ist die Fähigkeit, zwischen medizinischer Dringlichkeit und Selbsthilfepotenzial zu differenzieren – und dem Patienten zugleich den langen Atem zu vermitteln, den eine wirksame Nagelpilzbehandlung erfordert. Denn wer frühzeitig und konsequent handelt, kann die Infektion nicht nur in den Griff bekommen, sondern sich auch langfristig davor schützen.
Nagelpilz ist weit mehr als eine Randerscheinung der Fußpflege oder ein ästhetisches Problem für Senioren. Es ist ein gesundheitliches Thema von überraschender Breite, das quer durch Altersgruppen, Lebensstile und Alltagsgewohnheiten verläuft – und damit exemplarisch für eine häufig vernachlässigte Erkenntnis steht: Prävention, Diagnostik und Therapietreue sind nicht an Alter, Status oder offensichtliche Risikofaktoren gebunden, sondern an das individuelle Verständnis für Körperpflege, Hygiene und medizinische Relevanz. Wer die Krankheit auf ältere Diabetiker reduziert, übersieht systematisch die gesellschaftlichen und verhaltensbasierten Ursachen einer Volksmykose, die längst aus dem Schattenbereich der Tabus herausgeholt gehört.
Die Realität ist, dass viele Betroffene zu spät handeln. Teils aus Scham, teils aus Unwissenheit, teils weil vermeintlich harmlose Nagelveränderungen bagatellisiert werden. Der Blick auf sportlich aktive oder kosmetisch gepflegte Menschen zeigt, dass die Entstehung von Onychomykosen häufig direkt mit modernen Lebensgewohnheiten verknüpft ist – enge Schuhe, künstliche Nägel, häufiges Schwitzen, vernachlässigte Trocknung. Dass solche Rahmenbedingungen medizinische Risiken bergen, wird selten kommuniziert, weder in den Medien noch in Lifestyle-orientierten Diskursen. Es ist Aufgabe der Gesundheitsberufe – und insbesondere der Apotheken – hier eine Brücke zu schlagen: zwischen ästhetischer Aufmerksamkeit und medizinischer Notwendigkeit.
Der zweite blinde Fleck liegt in der Therapie. Wer einmal an Nagelpilz erkrankt ist, muss sich auf eine zähe und langwierige Behandlung einstellen. Doch das steht im Kontrast zur Schnelllebigkeit vieler Gesundheitsvorstellungen. Der Wunsch nach sofortiger Wirkung und kurzen Behandlungszeiträumen lässt viele Betroffene zu früh aufgeben oder falsch anwenden. Dass sich Erfolge erst nach Monaten zeigen, dass tägliche Anwendungen eingehalten werden müssen, dass Hygienemaßnahmen zur Routine werden – all das passt nicht zur Illusion der unmittelbaren Gesundung. Umso wichtiger ist ein realistisches Erwartungsmanagement durch die Beratung.
Dass Apotheken hier eine Schlüsselrolle einnehmen können, liegt auf der Hand. Die Schnittstelle zwischen ärztlicher Diagnose, rezeptfreier Therapie und praktischer Alltagstauglichkeit wird nirgends besser bedient als im direkten Gespräch zwischen pharmazeutischem Fachpersonal und Patient. Die Bereitschaft, die Mühe, die Konsequenz – all das entscheidet über den Therapieerfolg. Die Aufgabe der Apotheken ist es, diesen Prozess nicht nur mit Produkten, sondern mit pragmatischen, empathischen und evidenzbasierten Empfehlungen zu begleiten.
Nagelmykosen sind damit ein Beispiel für eine unterschätzte Krankheit mit komplexen Ursachen, langwieriger Behandlung und hohem Rückfallpotenzial. Wer diesen Umstand ernst nimmt, wird verstehen, dass Aufklärung, Prävention und Verhaltensberatung einen festen Platz in der Gesundheitsversorgung haben – nicht nur am HV-Tisch, sondern in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Denn was am Nagel beginnt, endet oft in der Frage, wie wir mit chronischen Infektionen, Eigenverantwortung und medizinischer Nachhaltigkeit umgehen.
Hautkrebs, Alterswandel, Früherkennung
Immer mehr stationäre Fälle durch UV-Schäden vergangener Jahrzehnte und demografischen Wandel
Die Zahl der stationären Hautkrebsbehandlungen in Deutschland ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten drastisch gestiegen. Wie das Statistische Bundesamt mitteilte, lag die Zahl im Jahr 2003 noch bei rund 62.000 Fällen, während im Jahr 2023 bereits 116.900 Menschen wegen Hautkrebs stationär behandelt wurden – ein Anstieg um fast 88 Prozent. Besonders auffällig ist der Zuwachs beim sogenannten hellen Hautkrebs, also Plattenepithel- und Basalzellkarzinomen: Hier stiegen die stationären Behandlungsfälle von 41.900 auf 91.000 – ein Plus von 117 Prozent. Auch beim gefährlicheren schwarzen Hautkrebs, dem malignen Melanom, zeigt sich ein klarer Trend: 2023 wurden rund 26.000 Patienten stationär aufgenommen, das sind 27 Prozent mehr als zwei Jahrzehnte zuvor.
Die Gründe für diesen massiven Anstieg sind vielschichtig. Fachleute verweisen auf den unbestritten wichtigsten Risikofaktor: die ultraviolette Strahlung der Sonne. Dabei geht es nicht nur um akute Sonnenbrände, sondern auch um langjährige Schädigungen der Haut durch regelmäßige UV-Exposition, selbst bei moderater Sonneneinstrahlung. Auffällig sei zudem, dass viele der heute beobachteten Krankheitsfälle auf Lichtschäden zurückzuführen seien, die bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren entstanden. Damals war Sonnenschutz ein Randthema, die Filterleistung damaliger Sonnencremes deutlich geringer, das Wissen um kumulierte UV-Schäden weitgehend unzureichend. Kinder und Jugendliche, die in diesen Jahrzehnten wiederholt schwere Sonnenbrände erlitten, gelten heute als besonders gefährdet.
Diese historische Nachlässigkeit trifft nun auf einen zweiten Faktor: die Alterung der Bevölkerung. Hautkrebs ist eine Krankheit, die mit steigendem Lebensalter signifikant häufiger auftritt. Eine älter werdende Gesellschaft führt zwangsläufig zu höheren Erkrankungszahlen – sowohl in der ambulanten wie auch der stationären Versorgung. Hinzu kommt die gestiegene Aufmerksamkeit und systematischere Erfassung der Fälle. Seit 2008 haben gesetzlich Versicherte ab dem Alter von 35 Jahren Anspruch auf ein regelmäßiges Hautkrebs-Screening. Auch wenn diese Früherkennungsuntersuchung in der Praxis nicht flächendeckend genutzt wird, dürfte sie den Anstieg zumindest teilweise erklären.
Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind auffällig: Während Frauen über alle Krankenhausdiagnosen hinweg insgesamt häufiger stationär behandelt werden, entfielen bei Hautkrebs zuletzt 56 Prozent aller stationären Fälle auf Männer. Dieser statistische Überhang legt nahe, dass Männer einerseits risikogeneigter sind – etwa durch häufigeren ungeschützten Aufenthalt im Freien –, andererseits aber womöglich auch seltener präventive Untersuchungen wahrnehmen.
Die Zahl der Todesfälle infolge von Hautkrebs zeigt einen ebenso beunruhigenden Trend. Im Jahr 2003 wurden etwa 2.800 Tote erfasst, 2023 waren es bereits rund 4.500 – ein Anstieg um 61 Prozent. Besonders betroffen ist die Altersgruppe der über 80-Jährigen, die über die Hälfte aller Todesfälle stellt. Doch auch bei jüngeren Erwachsenen bleibt Hautkrebs eine relevante Todesursache: In der Altersgruppe der 30- bis 34-Jährigen war Hautkrebs bei einem Prozent aller Todesfälle die Ursache – deutlich über dem Durchschnitt aller Altersgruppen, der bei lediglich 0,4 Prozent liegt.
Insgesamt entsteht das Bild einer chronisch unterschätzten Volkskrankheit, deren epidemiologisches Ausmaß sich sowohl aus dem medizinischen Fortschritt als auch aus den strukturellen Versäumnissen der Vergangenheit speist. Die Erkenntnisse werfen nicht nur medizinische, sondern auch gesellschaftspolitische Fragen auf: Wie gelingt es, Prävention ernsthaft zu verankern, wenn die entscheidenden Risiken Jahrzehnte vor der Diagnose entstehen? Welche Rolle spielen systemische Defizite im Bewusstsein, in der Vorsorge und in der Aufklärung? Und wie kann der gesellschaftliche Umgang mit Sonnenexposition neu justiert werden, ohne in moralistische Verbote oder kosmetische Dogmen zu verfallen?
Der steile Anstieg der stationären Hautkrebsbehandlungen ist weder überraschend noch bloßer Ausdruck verbesserter Diagnostik. Vielmehr ist er das Resultat einer jahrzehntelangen Gemengelage aus Unwissen, gesellschaftlicher Gleichgültigkeit gegenüber UV-Schäden und einem medizinischen System, das Prävention häufig als nachrangig behandelt. Was heute als „Erfolg“ von Früherkennung gefeiert wird, ist in Wahrheit auch das verzögerte Echo auf medizinische Versäumnisse der Vergangenheit.
Die epidemiologischen Daten erzählen eine Geschichte, die weit über individuelle Verantwortung hinausgeht. In den 1970er- und 1980er-Jahren galt Sonnenbräune als Schönheitsideal und Ausdruck von Freizeitwohlstand. Die damals gängigen Lichtschutzmittel waren oft ineffektiv, die Sensibilität für Langzeitschäden gering. Heute holen uns diese Nachlässigkeiten ein. Der Körper vergisst nicht – und Hautzellen führen ein Langzeitprotokoll der Sorglosigkeit. Dass viele der heutigen Patienten ihre Sonnenbrände vor 40 Jahren kassiert haben, ist keine Metapher, sondern biochemische Realität.
Doch die Verantwortung endet nicht bei den Betroffenen selbst. Wenn heute jede zweite gesetzlich versicherte Person das Hautkrebs-Screening nicht nutzt, ist das nicht nur ein Informationsdefizit, sondern ein strukturelles Versagen. Vorsorge wird noch immer stiefmütterlich finanziert, marginal kommuniziert und kulturell als „Kann-Leistung“ begriffen. Der hohe Männeranteil unter den Betroffenen spricht Bände: Es gibt eine geschlechtsspezifische Asymmetrie in der Bereitschaft, sich untersuchen zu lassen – und ein System, das dieser Asymmetrie seit Jahrzehnten tatenlos zusieht.
Hautkrebs ist nicht nur eine medizinische Diagnose, sondern ein Spiegel gesellschaftlicher Prioritäten. Die Zahlen zeigen, dass wir nach wie vor nicht gelernt haben, Prävention ernst zu nehmen – weder individuell noch institutionell. Die Alterung der Gesellschaft wird diesen Trend weiter verstärken. Ohne eine entschlossene Aufwertung frühzeitiger Maßnahmen droht die stationäre Versorgung dauerhaft überlastet zu werden.
Auch die Risikokommunikation braucht eine Neuausrichtung. Es reicht nicht, immer wieder dieselben Hinweise zum Sonnenschutz zu wiederholen. Was fehlt, ist eine emotionale wie rationale Verankerung von Hautschutz als Teil einer gesundheitsbewussten Lebensweise. Und was fehlt, ist eine öffentliche Diskussion über die Frage, wie viel Leid wir heute verhindern könnten, wenn Prävention endlich die Aufmerksamkeit bekäme, die ihr epidemiologisch längst zusteht.
Die aktuelle Statistik ist nicht nur ein Weckruf. Sie ist eine stille Anklage.
Zielgerichtete Leukämie-Therapien, geriatrische Standards, neue CGA-Relevanz
Chronisch lymphatische Leukämie wird zunehmend ohne Chemotherapie behandelt – für ältere Patienten ändert sich die Versorgung grundlegend.
Die aktualisierte S3-Leitlinie zur chronisch lymphatischen Leukämie (CLL) markiert einen bedeutenden Wendepunkt in der onkologischen Versorgung älterer Erwachsener in Deutschland. Unter der Leitung der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) haben 26 Fachgesellschaften und Institutionen ein neues, zukunftsweisendes Therapiekonzept formuliert, das sich klar von der bisherigen chemotherapiegestützten Standardbehandlung absetzt. Im Zentrum steht der Übergang zu oral verfügbaren, zielgerichteten Therapien, die nicht nur höhere Wirksamkeit versprechen, sondern auch deutlich besser verträglich sind – ein Fortschritt, der gerade für geriatrische Patientinnen und Patienten weitreichende Konsequenzen hat.
CLL ist die häufigste Form von Leukämie im Erwachsenenalter in Deutschland. Rund 5600 Menschen erkranken jährlich neu, neun von zehn sind über 55 Jahre alt. Das mittlere Diagnosealter liegt bei etwa 70 Jahren. Entsprechend steht die Geriatrie im Mittelpunkt des neuen Versorgungskonzepts. Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) betont die besonderen Anforderungen, die sich bei älteren Menschen mit Komorbiditäten, funktionellen Einschränkungen und erhöhtem Nebenwirkungsrisiko ergeben. Die neue Leitlinie erkennt diese Realität an, indem sie den Einsatz moderner Wirkstoffe nicht als Standardlösung, sondern als differenziert zu prüfende Option positioniert, die stets auf den individuellen Gesundheitsstatus abzustimmen ist.
Die Umstellung auf chemotherapiefreie Behandlungsoptionen wie BTK-Inhibitoren oder BCL2-Hemmer in Tablettenform ist kein bloßer technischer Fortschritt. Vielmehr stellt sie einen Paradigmenwechsel dar, der das therapeutische Selbstverständnis in der Behandlung von CLL neu definiert. Während früher die Intensität der Immunchemotherapie häufig vom Ergebnis eines umfassenden geriatrischen Assessments (CGA) abhing, drohte dieses strukturierte Instrument zur Nebenwirkungsabschätzung in Zeiten vermeintlich milderer Tablettentherapien in den Hintergrund zu geraten. Doch genau an diesem Punkt setzt die neue Leitlinie eine klare Korrektur: Auch moderne zielgerichtete Therapien bedürfen einer sorgfältigen Bewertung individueller Risiken, denn Gebrechlichkeit, Sturzneigung, Polypharmazie oder kognitive Einschränkungen lassen sich nicht durch bessere Wirkstoffprofile neutralisieren.
Neue Studienergebnisse zeigen, dass sich das CGA auch unter den Bedingungen moderner CLL-Therapie als wertvolles Instrument erweist. Es hilft nicht nur bei der Erkennung vulnerabler Patientengruppen, sondern ermöglicht auch eine systematische Erfassung therapiebedingter Belastungen, die sonst leicht übersehen würden. Der Einsatz des CGA verbessert die Vorhersagekraft für Nebenwirkungen, Therapieadhärenz und funktionelle Verschlechterung und bietet damit die Grundlage für eine wirklich personalisierte Altersmedizin. Die DGG kündigt bereits an, diese Erkenntnisse in künftige Versionen der Leitlinie in Form konkreter Handlungsempfehlungen für geriatrische Assessments zu überführen.
Die neue Leitlinie ist daher mehr als ein reines Therapieschema – sie steht exemplarisch für einen Wandel hin zu einer altersgerechten, risikoangepassten und individuell steuerbaren Leukämieversorgung. Sie stärkt das Zusammenspiel von Onkologie und Geriatrie und fordert zugleich eine Neuausrichtung der Versorgungslogik, weg vom linearen Therapiedenken hin zu einer integrativen Behandlungsstrategie. Für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte bedeutet das nicht nur eine methodische Umstellung, sondern auch ein wachsendes Maß an interdisziplinärer Verantwortung.
Gerade weil die neue Leitlinie keine Standardantworten liefert, sondern den Kontext der individuellen Patientensituation in den Mittelpunkt stellt, verlangt sie in der Praxis ein hohes Maß an differenzierter Entscheidungskompetenz. Dabei rückt die Bedeutung strukturierter geriatrischer Verfahren erneut ins Zentrum der klinischen Aufmerksamkeit. Das CGA wird damit nicht obsolet, sondern aufgewertet – als strategisches Instrument zur Vermeidung von Über-, Unter- und Fehlbehandlungen bei älteren CLL-Patienten. Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie spricht in diesem Zusammenhang von einem notwendigen „Rückbau an Vereinfachung“ und mahnt, zielgerichtete Therapien nicht mit sorgloser Therapie zu verwechseln.
Die Fachgesellschaften appellieren an Behandelnde, das CGA künftig konsequenter einzusetzen – nicht trotz, sondern gerade wegen der neuen therapeutischen Möglichkeiten. Denn je differenzierter und personalisierter die Behandlung wird, desto klarer wird: Alter ist kein Ausschlusskriterium für moderne Krebstherapie, wohl aber ein Auftrag zur Individualisierung. Diese Leitlinie setzt dafür den neuen Standard.
Der tiefgreifende Wandel in der Behandlung der chronisch lymphatischen Leukämie markiert nicht nur einen medizinischen Fortschritt, sondern entlarvt auch einen weit verbreiteten Trugschluss im Umgang mit älteren Patientinnen und Patienten: dass Fortschritt automatisch Vereinfachung bedeutet. Was auf den ersten Blick als therapeutische Befreiung von der belastenden Chemotherapie erscheint, birgt bei genauerer Betrachtung neue Komplexität. Die Einführung zielgerichteter Tablettentherapien macht die Behandlung nicht automatisch einfacher, sondern anspruchsvoller – medizinisch, organisatorisch und ethisch.
Das Dilemma ist altbekannt, aber bislang unzureichend bearbeitet: Wie lässt sich eine hochspezialisierte Krebstherapie mit den realen Lebensbedingungen geriatrischer Patientinnen und Patienten vereinbaren? Die neue S3-Leitlinie gibt eine klare Antwort – durch Rückbesinnung auf das, was Geriatrie seit jeher fordert: Kontext, Funktionalität, Individualisierung. Die Gefahr, dass moderne Medikamente als „einfacher“ gelten und damit weniger kritisch hinterfragt werden, ist real. Gerade weil sie per Tablette verabreicht werden und vermeintlich milder wirken, droht eine therapeutische Sorglosigkeit, die den Besonderheiten des Alters nicht gerecht wird.
Die Rehabilitierung des Comprehensive Geriatric Assessment als zentrales Steuerungsinstrument ist daher mehr als eine technische Empfehlung. Sie ist ein gesundheitspolitisches Signal: Auch im Zeitalter molekularbiologischer Präzisionsmedizin bleiben klinische Urteilskraft und strukturierte Risikoabwägung unerlässlich. Der Hinweis der DGG, das CGA nicht auf die Ära der Chemotherapie zu beschränken, sondern in moderne Behandlungsschemata zu integrieren, ist Ausdruck dieser Haltung. Es ist nicht die Therapieform, die über die Angemessenheit entscheidet, sondern die Fähigkeit zur patientenzentrierten Anwendung.
Zudem stellt sich eine grundsätzliche Frage an das System: Sind die onkologischen Versorgungsstrukturen ausreichend auf die steigende Zahl alter und hochbetagter Krebspatienten vorbereitet? Die Antwort lautet: bisher nicht. Noch immer fehlen flächendeckende geriatrisch-onkologische Kooperationen, systematische Schulung in funktioneller Diagnostik und ausreichende Berücksichtigung altersmedizinischer Aspekte in Leitlinien und Studien. Die Neufassung der CLL-Leitlinie ist in dieser Hinsicht ein Hoffnungsschimmer, aber auch Mahnung, Versorgungswirklichkeit und Leitlinienideal in Einklang zu bringen.
Der technologische Fortschritt darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eigentliche Herausforderung in der Behandlung älterer Menschen nicht in der Auswahl des Medikaments liegt, sondern in der Entscheidung, wie viel Therapie sinnvoll, tragbar und lebenswert ist. Es braucht medizinischen Realismus statt therapeutischer Euphorie, altersmedizinische Expertise statt Automatismus, und vor allem: den Mut zur Differenzierung. Die neue CLL-Leitlinie eröffnet diesen Weg – ob er beschritten wird, bleibt eine Frage der Praxis, nicht des Papiers.
Rekord mit 102 Jahren, Apotheke aus Überzeugung, Pflichtgefühl als Antrieb
Kesa Hatamoto trotzt dem Ruhestand, führt ihre Apotheke in Tokio seit über 70 Jahren und zeigt, wie Berufung alle Konventionen sprengt.
In einer Zeit, in der das Wort „Berufung“ oft leichtfertig verwendet wird, verkörpert Kesa Hatamoto eine radikale Gegenposition. Mit 102 Jahren steht sie immer noch täglich in ihrer Apotheke in Tokio, prüft Bestellungen, führt Kundengespräche und kümmert sich um den Versand. Sie hält damit nicht nur den offiziellen Guinness-Weltrekord als älteste praktizierende Apothekerin der Welt, sondern verkörpert ein Lebensmodell, das in der heutigen Arbeitswelt nahezu aus der Zeit gefallen scheint: Arbeit als Lebenszweck, nicht als Last.
Geboren in einer Zeit, in der der Beruf der Frau stark reglementiert war, entschied sich Hatamoto zunächst für den Weg, den viele Frauen einschlugen – sie wollte Lehrerin werden. Doch der Einfluss ihres Vaters, der ihr zur Apothekerlaufbahn riet, veränderte alles. Die Aussicht, einen Beruf mit lebenslanger Perspektive ausüben zu können, überzeugte sie. Was mit einem väterlichen Rat begann, wurde zum Fundament eines Berufslebens, das sich jeder Konvention widersetzt.
Ihre Apotheke trägt den Namen „Anzen“ – das japanische Wort für Sicherheit. Diese Namenswahl ist nicht nur ein Ausdruck beruflicher Philosophie, sondern Ergebnis persönlicher Erschütterung: Ihr Mann hatte für einen Freund gebürgt, der das Vertrauen missbrauchte. Die Familie verlor viel. Die Apotheke wurde zur Rettung, zur Einkommensquelle, zur Sinnstiftung. Die doppelte Bedeutung des Namens – Sicherheit für die Kunden, finanzielle Sicherheit für die Familie – wurde damit zum Lebensprinzip.
Die heute 102-Jährige führt ihr Unternehmen mit derselben Ernsthaftigkeit wie vor Jahrzehnten. Auch wenn ihre Kinder im Betrieb mithelfen, sind es die Lagerhaltung, die Beschaffung und der Versand, die sie sich nicht nehmen lässt. Sie begreift ihre Arbeit nicht als Last, sondern als Aufgabe, fast schon als spirituelles Mandat. „Ich habe das Gefühl, dass der Himmel mir die Pflicht auferlegt hat, so viel wie möglich auf der Erde zu arbeiten“, formuliert sie es selbst. Es ist diese Haltung, die ihrer Tätigkeit Würde und Tiefe verleiht – weit über wirtschaftliche Motive hinaus.
Hatamotos Geschichte widerspricht fast allem, was über modernes Arbeiten erzählt wird. In einer Welt, die sich zunehmend um Work-Life-Balance, Frühverrentung und Digitalisierung dreht, wirkt ihr Lebensentwurf wie ein Anachronismus – und gleichzeitig wie ein stiller Protest gegen das Wegwerfen von Erfahrung. Ihre Apotheke steht nicht für Effizienz, sondern für Verlässlichkeit. Sie steht nicht für Automatisierung, sondern für Menschlichkeit. Sie steht nicht für Altersgrenzen, sondern für eine Ethik des Dabeibleibens.
Dabei ist Hatamoto keine nostalgische Figur. Sie hat sich weiterentwickelt, ihr Wissen gepflegt, Verantwortung weitergegeben, ohne sich aus der Verantwortung zu stehlen. Ihre Präsenz ist nicht Symbol, sondern Substanz. In einer Gesellschaft, die das Alter zunehmend aus dem Zentrum des Arbeitslebens verdrängt, bleibt sie dort – ohne Pathos, ohne Selbstdarstellung. Sie ist nicht die Ausnahme, die die Regel bestätigt, sondern die Erinnerung daran, dass es auch andere Regeln geben könnte.
Dass sie mittlerweile in aller Welt als Kuriosum gefeiert wird, dürfte für sie selbst von nachgeordneter Bedeutung sein. Wichtiger ist offenbar, dass ihre Apotheke funktioniert, dass Kunden versorgt werden, dass der Betrieb läuft. Es ist ein anderes Verständnis von Professionalität – leise, beständig, demütig. Und genau darin liegt ihre Strahlkraft: Sie zeigt, dass Würde nicht im Ruhestand beginnt, sondern im täglichen Tun liegt.
Die Geschichte von Kesa Hatamoto ist mehr als eine Randnotiz in der Guinness-Chronik. Sie ist eine stille Provokation – gegen das gängige Bild vom Alter, gegen das neoliberale Narrativ von Produktivität und gegen das kulturell verankerte Ideal vom verdienten Ruhestand. In einer Arbeitswelt, die sich zunehmend um Exitstrategien dreht, stellt Hatamoto die Frage nach dem „Warum“ der Arbeit – nicht aus theoretischem Interesse, sondern durch gelebte Realität.
Ihre Biografie ist nicht verklärend zu lesen. Sie ist keine Romantisierung harter Arbeit oder gar ein Aufruf, Menschen bis zum Tod in Beschäftigung zu halten. Sie ist vielmehr ein radikales Zeugnis von Sinnstiftung. Die Frage, was Arbeit bedeutet, wenn sie nicht nur Mittel zum Zweck ist, sondern Zentrum der Identität, wird hier mit einer Klarheit beantwortet, die sprachlos macht.
In Hatamotos Haltung steckt eine stille Ethik: Es geht ihr nicht um Erfolg im klassischen Sinn, sondern um Pflicht, Verantwortung, Demut. Diese Begriffe sind aus der Mode geraten, klingen alt, unmodern, fast reaktionär. Und doch werden sie bei ihr zu etwas Lebendigem. Sie erhebt kein Urteil über andere, sie kommentiert keine gesellschaftliche Debatte – sie lebt einfach anders. Und darin liegt ihr Kommentar zur Gegenwart.
Es ist kein Zufall, dass diese Geschichte aus Japan kommt – einem Land, das einerseits vom demografischen Wandel besonders betroffen ist und andererseits Arbeitsmoral in einer Form kultiviert, die in Europa oft belächelt wird. Doch die Geschichte dieser Apothekerin ist nicht national, sondern universal. Sie stellt grundlegende Fragen an die westlichen Gesellschaften: Wann genau beginnt eigentlich Alter? Wann endet Verantwortung? Und wer definiert den Wert von Arbeit?
Gleichzeitig ist Hatamotos Geschichte ein Lehrstück über Unternehmertum. Sie zeigt, wie persönliche Krisen – wie die durch die Bürgschaft ihres Mannes ausgelöste finanzielle Katastrophe – in produktive Lebensentscheidungen umgewandelt werden können. Ihre Apotheke ist nicht nur ein Geschäft, sondern ein Ort, an dem Vergangenheit, Verpflichtung und Fürsorge ineinandergreifen. Dass sie ihn auch nach sieben Jahrzehnten nicht verlässt, ist weniger eine Heldentat als eine Entscheidung aus Überzeugung.
Dass sie sich selbst nicht inszeniert, keine Bühne sucht, keine Autobiografie verfasst, ist vielleicht der größte Kontrast zur heutigen Öffentlichkeit, in der jede Abweichung vom Normpfad sofort monetarisiert wird. Kesa Hatamoto demonstriert, dass Lebensleistung nicht laut sein muss, um Eindruck zu hinterlassen. Sie steht da, arbeitet weiter – und hinterlässt eine Leerstelle im öffentlichen Diskurs: die Frage, was wir mit all der Zeit anfangen wollen, wenn sie nicht mehr durch äußeren Druck geregelt ist.
In einer Epoche, die sich ständig überarbeitet, ist diese 102-jährige Apothekerin eine stille Antwort. Nicht, weil sie das Gegenteil tut – sondern weil sie die Arbeit zu dem macht, was sie im besten Fall sein kann: Ausdruck von Haltung, nicht nur Erwerb.
Von Engin Günder, Fachjournalist
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