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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |
Apotheken in Deutschland geraten zunehmend in ein bedrohliches Spannungsfeld aus politischem Reformversagen, wachsendem wirtschaftlichen Druck und technologischen Risiken. Trotz eines deutlichen Umsatzwachstums in Bayern schließen dort mehr Apotheken als im Bundesdurchschnitt. Der Rückzug der letzten Offizin aus vielen Gemeinden zerstört nicht nur das lokale Gesundheitsangebot, sondern auch das Vertrauen in politische Steuerungsfähigkeit. Währenddessen verhindert ein Ressortstreit zwischen zwei Ministerien die Umsetzung der im Koalitionsvertrag verankerten Honorarreform. Parallel drängt sich das E-Rezept als Symbol für digitale Überforderung in den Apothekenalltag, begleitet von einer stetig steigenden Bedrohung durch Cyberkriminalität und Abrechnungsretaxationen. Doch es gibt auch Bewegung: Apotheken in Nordrhein suchen mit KI-gestützter Beratung, neuen OTC-Konzepten und Rabattaktionen nach Wegen, sich im Selbstmedikationsmarkt zu behaupten. Klinische Fortschritte wie der präventive Einsatz von Ubrogepant in der Migränebehandlung oder genetische Tests zur Vermeidung schwerer Nebenwirkungen eröffnen darüber hinaus neue Felder für pharmazeutische Expertise – ebenso wie Erkenntnisse zu Vitamin B3 in der Long-Covid-Therapie. Gleichzeitig offenbart der Rückzug des letzten breit aufgestellten europäischen Antibiotikaherstellers nach China das Scheitern europäischer Industriepolitik. Das Gesamtbild zeigt eine Branche, die zwischen innovativer Kraft, politischem Stillstand und strukturellem Verfall zerrieben wird – und nur mit integrierten Schutzkonzepten, wirtschaftlicher Weitsicht und heilberuflicher Selbstvergewisserung eine tragfähige Zukunft gestalten kann.
Cyberrisiken, Retaxfallen, Reformdruck
Wie Apotheken mit Schutzkonzepten ihre Zukunft sichern und neue Einnahmequellen erschließen
Die Apothekenbranche in Deutschland steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Getrieben von politischen Reformen, technologischer Transformation und wachsendem ökonomischen Druck sind Apothekenbetreiber gezwungen, sich umfassend neu aufzustellen. Zentrale Herausforderungen ergeben sich durch die digitale Neuausrichtung im Gesundheitswesen, gesetzliche Veränderungen wie das Apothekenreformgesetz (ApoRG), eine zunehmende wirtschaftliche Belastung sowie die stetige Bedrohung durch Cyberangriffe. In diesem Spannungsfeld gewinnen Schutzkonzepte, die digitale, finanzielle und rechtliche Risiken gemeinsam adressieren, eine entscheidende Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit jedes Apothekenbetriebs.
Die Digitalisierung hat sich längst vom Innovationsversprechen zur Risikoquelle gewandelt. Die Einführung des E-Rezepts, die verpflichtende digitale Anbindung an Telematikstrukturen und der Alltagseinsatz von Softwarelösungen in Lagerung, Dokumentation und Abrechnung schaffen ein Einfallstor für Hacker und Schadsoftware. Immer häufiger berichten Apotheker von Angriffen auf ihre Server, von verschlüsselten Patientendaten oder sabotierten Betriebsabläufen. Der wirtschaftliche Schaden ist erheblich – hinzu kommt ein irreparabler Vertrauensverlust bei den Kunden. Sicherheitsmaßnahmen wie Firewalls und Verschlüsselung sind daher kein technologisches Extra, sondern betriebliche Grundvoraussetzung. Unterstützt werden sollten sie durch leistungsstarke Cyberversicherungen, die nicht nur bei finanziellen Schäden greifen, sondern auch bei der Wiederherstellung des Betriebs nach einem Angriff professionelle Hilfe leisten. Doch Technik allein schützt nicht: Immer noch geht ein Großteil der erfolgreichen Angriffe auf menschliche Fehlreaktionen zurück. Die kontinuierliche Schulung des Personals im Umgang mit Phishing, Social Engineering und Datenmanagement ist deshalb elementarer Bestandteil jedes Schutzkonzepts.
Auch wirtschaftlich sehen sich Apotheken massiven Risiken ausgesetzt. Die regelmäßigen Retaxationen durch Krankenkassen entwickeln sich zu einer existenzbedrohenden Gefahr, da schon kleinere Formfehler bei der Abrechnung hohe Rückforderungen auslösen können. Die finanziellen Auswirkungen sind dabei oft nicht planbar – sie treffen Betriebe unvermittelt und mit teils ruinöser Wucht. Trotzdem verzichten viele Apotheken noch immer auf spezielle Retaxversicherungen, die in solchen Fällen gezielt absichern könnten. Ebenso unterschätzt wird das Risiko plötzlicher Betriebsausfälle durch technische Defekte, Stromausfälle oder Naturereignisse. Eine Allrisk-Versicherung kann hier nicht nur die Schäden abfedern, sondern auch eine schnelle Rückkehr zum Normalbetrieb ermöglichen. Parallel zur Absicherung müssen sich Betreiber aber auch strategisch wirtschaftlich breiter aufstellen. Selbstzahlerleistungen, Präventionsangebote oder spezialisierte Medikationsanalysen sind geeignete Wege, um stabile Einnahmequellen zu schaffen, die unabhängig vom Kassensystem funktionieren.
Auf regulatorischer Ebene hat sich das Risiko für Betreiber nochmals verschärft. Die Apothekenreform erhöht nicht nur die Anforderungen an die Dokumentation und Abrechnung, sondern verschärft auch die Haftungsrisiken im Umgang mit sensiblen Patientendaten. Wer Pflegeheime oder ambulante Einrichtungen beliefert, muss zusätzliche bürokratische Hürden nehmen, die ohne juristische Beratung kaum zu bewältigen sind. Fehler im Vertragswesen oder in der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben können empfindliche Strafen nach sich ziehen – und beschädigen darüber hinaus dauerhaft die Reputation des Betriebs. Es ist daher unerlässlich, die betriebliche Organisation eng mit spezialisierten Steuer- und Rechtsberatern abzustimmen und gesetzliche Änderungen fortlaufend in die Betriebsabläufe zu integrieren.
Ein effektives Schutzkonzept für Apotheken ist deshalb kein standardisierter Versicherungsmantel, sondern eine individuelle Risikoarchitektur, die technische Sicherheit, wirtschaftliche Stabilität und rechtliche Compliance in einem integrierten Modell abbildet. Der erste Schritt ist eine fundierte Risikoanalyse, die alle Bereiche des Betriebs durchleuchtet – von der IT über die Rezeptabrechnung bis zur Lagerorganisation. Auf dieser Basis können gezielte Schutzmaßnahmen implementiert werden, die im Idealfall nicht nur Schäden abwenden, sondern auch die betriebliche Handlungsfähigkeit erhöhen. Erfolgreiche Apothekenbetreiber kombinieren dabei Investitionen in IT-Sicherheit, Versicherungsschutz und rechtliche Beratung zu einem strategischen Sicherheitsdreieck, das Risiken nicht nur abwehrt, sondern aktiv in Wettbewerbsvorteile umwandelt.
Die Apotheken der Zukunft werden nicht allein durch ihre Produkte oder Dienstleistungen bestehen, sondern durch ihre Fähigkeit, in einem hochdynamischen Umfeld sicher und resilient zu agieren. Schutzkonzepte sind keine Option mehr – sie sind ein betriebswirtschaftliches Muss.
Die neue Risikorealität in Apotheken erfordert einen Paradigmenwechsel im Denken der Betreiber. Wer heute noch glaubt, mit klassischen Maßnahmen wie einer Betriebshaftpflicht und regelmäßigen Software-Backups ausreichend geschützt zu sein, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Die Bedrohungslage ist nicht diffus, sondern konkret – und sie trifft zunehmend auch kleinere Betriebe, die sich in trügerischer Sicherheit wiegen. Es genügt heute nicht mehr, das eigene Warenlager effizient zu führen oder pharmazeutische Qualität zu garantieren. Entscheidend ist, ob ein Betrieb seine Verletzlichkeit gegenüber technischen, finanziellen und regulatorischen Einflüssen systematisch minimiert.
Besonders frappierend ist die mangelnde Vorbereitung vieler Apotheken auf Cyberangriffe. Dass sensible Gesundheitsdaten ein bevorzugtes Ziel organisierter Kriminalität sind, ist bekannt. Dennoch fehlt es oft an den elementarsten Vorkehrungen: ungeschützte Server, veraltete Softwarestände und fehlende Notfallpläne sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Hier ist nicht nur Aufklärung, sondern ein Kulturwandel nötig – weg von der Vorstellung, Sicherheit sei ein Kostenfaktor, hin zur Einsicht, dass sie eine unternehmerische Grundbedingung darstellt.
Auch wirtschaftlich sind viele Apotheken schlecht aufgestellt. Die weiterhin hohe Zahl an Retaxationen zeigt, dass hier keine strukturelle Lösung gefunden wurde – obwohl passende Versicherungen existieren. Noch schwerer wiegt, dass viele Betreiber die Einnahmeseite stiefmütterlich behandeln. Dabei wäre gerade in Zeiten stagnierender Fixvergütung die Entwicklung selbsttragender Angebote essenziell. Präventionsleistungen, Medikationsanalysen oder der gezielte Ausbau von Heimversorgungsmodellen bieten großes Potenzial – wenn sie professionell kalkuliert und integriert werden.
Rechtlich schließlich bleibt die Lage angespannt. Die Apothekenreform hat nicht nur neue Auflagen geschaffen, sondern auch die Unsicherheit erhöht. Wer heute nicht mit Experten aus Steuer- und Rechtsberatung arbeitet, riskiert nicht nur Bußgelder, sondern den Verlust seiner Betriebsgenehmigung. Der Reformdruck wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen – sei es durch neue Vorgaben zur Telematik, zur Dokumentation oder zu Versorgungsverträgen. Wer sich jetzt nicht wappnet, wird überrollt.
Die Botschaft ist klar: Nur wer Risiken erkennt, analysiert und absichert, kann sich im Apothekenmarkt behaupten. Die Zukunft gehört jenen, die Schutz nicht als Reaktion, sondern als strategische Führungsaufgabe begreifen.
Umsatzboom, Apothekenschwund, Reformversagen
Trotz Rekordeinnahmen schließen in Bayern mehr Apotheken als im Bund – Politik reagiert weiter hilflos
Bayerns Apothekenwirtschaft hat im Jahr 2024 einen widersprüchlichen Befund geliefert: Während die Umsätze auf Rekordhöhe kletterten und das Betriebsergebnis erstmals seit Jahren leicht anstieg, verschärfte sich die Strukturkrise im Apothekenwesen dramatisch. Mit einem Rückgang von 88 Apotheken verzeichnete der Freistaat sogar eine überdurchschnittlich hohe Schließungsrate. Die aktuelle Analyse der Treuhand Hannover, vorgestellt beim Bayerischen Apothekertag 2025 in Regensburg, bringt das Dilemma deutlich zum Vorschein: Ein wachsender Markt, der nicht alle trägt – und eine Politik, die nicht gegensteuert.
Am 31. Dezember 2024 existierten in Bayern nur noch 2.697 Apotheken – ein Rückgang um 3,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Bundesweit lag das Minus bei 3,0 Prozent. Für Dr. Hans-Peter Hubmann, Vorsitzender des Bayerischen Apothekerverbands, ist dies ein weiteres Indiz für das fortgesetzte Apothekensterben. Das sei kein regionales, sondern ein strukturelles Problem. Die Zahl der Apotheken in Deutschland ist inzwischen unter 17.000 gefallen. Besonders paradox: Trotz dieser Entwicklung erzielten die verbliebenen Apotheken im Freistaat einen Umsatzsprung von 3,42 auf 3,66 Millionen Euro – den zweithöchsten Zuwachs der letzten zwanzig Jahre.
Ursächlich für das Umsatzwachstum waren laut Dr. Sebastian Schwintek von der Treuhand Hannover insbesondere Preissteigerungen, eine erhöhte Zahl an Packungsabgaben und die starke Gewichtung teurer Rx-Produkte. Arzneimittel mit einem Apothekenverkaufspreis über 500 Euro machten erstmals die Hälfte des Umsatzes aus. Während der Absatz leicht zurückging, stieg der Umsatz mit Rx-Arzneien um 8,5 Prozent, jener mit OTC-Produkten um 4,1 Prozent. Auch die Schließungen selbst verstärken diese Dynamik: Die verbliebenen Apotheken übernehmen Patienten und Kunden, was Schwintek als „Kannibalismus“ beschreibt.
In der Folge konnten die Apotheken im Schnitt ein Betriebsergebnis von 160.000 Euro erzielen – nach 145.000 Euro im Vorjahr. Doch von einer echten Trendwende will Schwintek nicht sprechen. Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom Juni 2024 zum Skonto-Verbot hat den Rohgewinn je Packung deutlich gedrückt: von 9,85 Euro im Mai auf 9,39 Euro im Juni, mit einer leichten Erholung auf 9,46 Euro im Dezember. Ohne dieses Urteil wäre der Ergebnisanstieg spürbar stärker ausgefallen. Für Hubmann sind es vor allem betriebliche Effizienzgewinne, die diese Entwicklung ermöglichen – ein Verdienst des unternehmerischen Einfallsreichtums der Kolleginnen und Kollegen.
Die Drittelbetrachtung der Betriebsergebnisse offenbart jedoch eine besorgniserregende Spreizung: Das schwächste Drittel der bayerischen Apotheken erzielte 2024 im Schnitt nur 25.000 Euro, das stärkste 326.000 Euro. In Großstädten mit über 100.000 Einwohnern verschärft sich die Lage: Dort kamen die schwächsten Apotheken auf nur 14.000 Euro, während die stärksten auf 304.000 Euro kamen. In kleinen Gemeinden ist das Ergebnisniveau insgesamt niedriger, die Differenz aber etwas geringer. Dort fehlten laut Schwintek vor allem Facharztpraxen mit hochpreisigen Rezepten.
Für das Jahr 2025 rechnen Hubmann und Schwintek mit einem weiteren Umsatzplus von rund fünf Prozent. Ursache seien der demografische Wandel, wachsende Packungszahlen und weiter steigende Preise. Der Rohgewinn pro Packung dürfte trotzdem erneut sinken. Das durchschnittliche Betriebsergebnis könnte dennoch leicht auf 162.000 Euro steigen. Der gesenkte Kassenabschlag auf 1,77 Euro könnte hier nur marginale Entlastung bringen.
Die Forderung nach einer schnellen Anhebung des Fixhonorars – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – steht deshalb weiter im Raum. Noch ausstehend ist aber deren konkrete Umsetzung durch die neue Bundesregierung. Besonders schwierig sei die Einführung eines länderspezifischen Zuschlags für Landapotheken. Eine differenzierte Förderregelung sei politisch heikel und operativ kaum handhabbar. Als Ausweg schlägt Schwintek ein modifiziertes Fixum für die ersten 20.000 abgegebenen Packungen vor – ein Vorschlag, der Gerechtigkeit mit Praktikabilität zu verbinden versucht.
Während die Apotheken wirtschaftlich wachsen, schrumpft ihre strukturelle Basis. Der Markt verdichtet sich auf immer weniger Standorte, der Wettbewerb wird brutaler, die Ungleichheit nimmt zu – und die Politik bleibt eine Antwort schuldig.
Der Bericht aus Bayern liest sich wie eine Parabel auf das Apothekenwesen der Gegenwart: glänzende Umsatzzahlen, bedrückende Strukturbilanz. Ein System, das seine wirtschaftliche Oberfläche zu retten scheint, während darunter die Grundfesten erodieren. Die Politik hat das Wachstum der Zahlen mit dem Überleben der Betriebe verwechselt. Dass Apotheken zunehmend durch Schließungen der Konkurrenz wachsen, ist kein Zeichen wirtschaftlicher Stärke, sondern Ausdruck systemischer Selbstzerstörung. Die volkswirtschaftlich absurde Lage, dass der Umsatz steigt, während die Versorgungslandschaft kollabiert, ist längst nicht mehr hinzunehmen.
Dabei wäre die Lösung nicht kompliziert – aber politisch unbequem. Es braucht ein echtes Bekenntnis zu einer wohnortnahen Arzneimittelversorgung und den Mut, diese auch finanziell zu sichern. Eine bloße Anhebung des Fixhonorars ist dabei notwendig, aber nicht hinreichend. Sie muss differenziert ausgestaltet werden, um dort zu wirken, wo die Not am größten ist – in kleinen, strukturschwachen Regionen ebenso wie bei Apotheken mit hohem Gemeinwohlanteil.
Stattdessen diskutiert die Politik in taktischen Trippelschritten: Das Skonto-Verbot wurde durchgewunken, ohne Kompensation. Die Förderung der Landapotheken versinkt in Konzeptlosigkeit. Und während große Ketten ihre ökonomischen Skalenvorteile ausbauen, bleiben inhabergeführte Betriebe unter dem Radar. Wenn Apotheken in Großstädten mit Betriebsergebnissen von 14.000 Euro durchhalten müssen, dann ist das keine betriebswirtschaftliche Schwäche – sondern ein politischer Skandal.
Die bayerische Bilanz ist keine regionale Anekdote. Sie ist der Spiegel einer bundesweiten Fehlentwicklung: Marktverdrängung durch Regulierungsversagen, betriebliche Unwucht durch politische Mutlosigkeit, Versorgungslücken durch finanzielle Gleichgültigkeit. Der Apothekertag hat diese Realität offengelegt – jetzt müsste sie nur noch jemand zur Kenntnis nehmen, der über Gesetze entscheidet. Doch genau daran scheint es zu scheitern.
Letzte Apotheke schließt, Gemeinden suchen Auswege, Vertrauen schwindet
Immer mehr Kommunen verlieren ihre Apotheken – mit dramatischen Folgen für Versorgung, Handel und politische Glaubwürdigkeit
Wenn die letzte Apotheke im Ort schließt, verändert sich nicht nur die gesundheitliche Versorgung, sondern das Gefüge ganzer Gemeinden. Was das konkret bedeutet, diskutierten Bürgermeister aus verschiedenen bayerischen Kommunen gemeinsam mit Apothekerfunktionären und einem Arzt beim Bayerischen Apothekertag in Regensburg. Die Erfahrungen der Kommunalpolitiker reichten dabei von ernüchternder Resignation über kämpferische Initiativen bis hin zu einem fast schon erschreckenden Stillhalten der Bevölkerung – ein Panorama, das die Versorgungskrise auf dem Land auf erschütternde Weise offenlegt.
Im Markt Schmidmühlen im Landkreis Amberg-Sulzbach ist es bereits Realität: Die einzige Apotheke schloss 2023 ihre Türen. Der langjährige Bürgermeister Peter Braun (CSU) äußerte sich verwundert darüber, dass diese Zäsur in der Bevölkerung kaum für Aufregung sorgte. Weder Proteste noch größere Beschwerden seien laut geworden. Dass das Verschwinden einer zentralen Einrichtung wie der Apotheke so gleichgültig hingenommen wurde, wirft Fragen auf – über die Erwartungen an die öffentliche Daseinsvorsorge, über die Ohnmacht ländlicher Räume und über eine gefährliche Gewöhnung an infrastrukturellen Rückbau.
Weitaus drastischer fiel die Reaktion in der Gemeinde Kirchahorn im oberfränkischen Ahorntal aus. Bürgermeister Florian Questel (Grüne) berichtete von einem regelrechten Einschnitt für den gesamten Ort. Die Schließung der letzten Apotheke habe nicht nur die Patientenversorgung getroffen, sondern auch umliegende Geschäfte wirtschaftlich belastet. Ein Nachfolger ließ sich nicht finden – unter anderem wegen der belastenden Nacht- und Notdienste. Der Abzug der Apotheke hatte eine Kettenreaktion zur Folge, deren gesellschaftliche wie wirtschaftliche Folgen über die reine Arzneimittelversorgung hinausgehen.
Auch im Markt Kallmünz, Landkreis Regensburg, endete Anfang 2025 eine jahrzehntelange Apothekentradition. Bürgermeister Martin Schmid (Freie Wähler) sprach von einem Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung, das sich breit machte, als die vertraute Institution verschwand. Gemeinsam mit Ärzten und Zahnärzten vor Ort wurde versucht, improvisierte Lösungen zu schaffen, etwa durch abgestimmte Öffnungszeiten oder Arzneimittelzustellungen. Doch deutlich wurde: Eine dauerhafte Lösung kann nur die Rückkehr einer vollwertigen Apotheke bieten. In Kallmünz entstehen durch die Schließung bereits Leerstände in der Innenstadt – ein sichtbares Zeichen, dass Gesundheitsversorgung eng mit wirtschaftlicher Vitalität und Lebensqualität verflochten ist.
Einen Kontrapunkt setzte Sebastian Koch (SPD), Bürgermeister der Gemeinde Wenzenbach. Dort bestehe aktuell keine Gefahr für die örtliche Apotheke. Koch zeigte sich dennoch überrascht, wie fragil die wirtschaftliche Situation vieler Apotheken sei. Er kritisierte die aus seiner Sicht zu niedrigen Tarifgehälter angesichts der hohen Qualifikation der Beschäftigten. Aus Sicht der Kommunalpolitik, so Koch, müsse man darüber nachdenken, ob nicht gezielte kommunale Anschubfinanzierungen für Neugründungen notwendig seien.
Die Brücke zur ärztlichen Versorgung schlug Christian Pfeiffer, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern. Er bestätigte, dass es zunehmend schwer werde, Landarztpraxen an jüngere Kolleginnen und Kollegen zu übergeben. Der Mangel an Nachfolgern betreffe nicht nur Apotheken. Arzt und Apotheker bedingten einander, betonte er. Ohne funktionierendes Netzwerk vor Ort könne keine Berufsgruppe bestehen. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis müsse sein, dass Politik und Kommunen beide Bereiche gemeinsam denken – und entsprechend unterstützen.
Für die Apothekerseite nahmen Thomas Benkert, Präsident der Bayerischen Landesapothekerkammer (BLAK), und Hans-Peter Hubmann, Vorsitzender des Bayerischen Apothekerverbands (BAV), an der Diskussion teil. Benkert verwies auf die Neuregelung der Notdienstregelung in Bayern, die zu einer durchschnittlichen Entlastung um 30 Prozent geführt habe. Dennoch sei im ländlichen Raum weiterhin eine flächendeckende Versorgung in Reichweite gewährleistet – ein Argument, das allerdings mit realen Wegen und Erreichbarkeiten kontrastiert, die für ältere oder nicht mobile Patientinnen und Patienten oft nicht praktikabel sind.
Hubmann forderte ein schnelles politisches Handeln. Die immer wieder geforderte Stärkung der Landapotheken sei kompliziert, weil es den „Typ Landapotheke“ nicht gebe. Fördermodelle müssten deshalb auf Betriebsgröße statt auf Ortslage abstellen, was allerdings neue Ungerechtigkeiten nach sich ziehen könne. Dennoch sei es notwendig, kleinere Apothekenbetriebe gezielt zu stützen – auch, um das Vertrauen des Berufsstands in die Politik zurückzugewinnen. Die letzten Jahre hätten dieses Vertrauen tief erschüttert, so Hubmann. Die Abwertung des Berufsbilds, finanzielle Vernachlässigung und politische Ignoranz hätten dazu beigetragen, dass viele Apothekerinnen und Apotheker nicht mehr an eine Zukunft auf dem Land glauben.
In der Diskussion kristallisierte sich heraus, dass Kommunen durchaus Möglichkeiten haben, um gegenzusteuern – etwa durch günstige Baulandpreise, Investitionen in Kitas und Schulen, oder durch den Ausbau von Verkehrsanbindungen. Doch strukturelle Probleme wie Nachwuchsmangel, hohe regulatorische Anforderungen und wirtschaftlicher Druck lassen sich damit allein nicht lösen. Entscheidend ist eine koordinierte Anstrengung von Kommunen, Ärzten, Apotheken und Politik, um das System zu stabilisieren, bevor es ganz zerfällt.
Die Schlussrunde war geprägt von einem vorsichtigen Optimismus. Christian Pfeiffer zeigte sich überzeugt, dass Ärzte und Apotheken auch in Zukunft unverzichtbar bleiben und die Versorgung nicht zusammenbrechen werde. Hans-Peter Hubmann äußerte die Hoffnung, dass das veränderte politische Klima mehr Unterstützung für Apotheken bringe. Thomas Benkert sah in den pharmazeutischen Dienstleistungen eine Chance, junge Menschen für den Beruf zu begeistern. Die Bürgermeister wiederum warben um neue Apothekengründer: mit Infrastruktur, mit politischer Unterstützung und nicht zuletzt mit dem Versprechen, dass man vor Ort gebraucht werde – dringender denn je.
Wenn in einem Ort die letzte Apotheke schließt, stirbt nicht nur ein Geschäft – es stirbt ein Stück lokaler Identität. Was auf dem Bayerischen Apothekertag als Diskussionsbeitrag begann, entfaltete sich als schonungslose Zustandsbeschreibung eines strukturellen Zerfalls, der längst Realität ist. Die Aussagen der Bürgermeister dokumentieren mehr als Einzelfälle. Sie zeigen: Die Gesundheitsversorgung auf dem Land bricht nicht irgendwann ein – sie ist längst dabei, es zu tun. Und mit ihr schwindet ein zivilisatorisches Mindestmaß an Verlässlichkeit.
Es sind nicht nur Arzneimittel, die mit dem Verschwinden der Apotheken verloren gehen. Es ist das Vertrauen in eine wohnortnahe Versorgung, in das politische Versprechen gleichwertiger Lebensverhältnisse, in die Funktionsfähigkeit eines Sozialstaats, der seine Grundpfeiler stillschweigend aufgibt. Die vermeintliche Gleichgültigkeit der Bevölkerung in Schmidmühlen ist daher keine Anekdote, sondern ein Alarmsignal. Wenn Menschen nicht mehr aufbegehren, wenn essentielle Dienste verschwinden, liegt das oft nicht an Desinteresse – sondern an resignierter Ohnmacht.
Die Tatsache, dass Apothekenschließungen Dominoeffekte auslösen, zeigt sich in Kirchahorn besonders drastisch. Mit der Apotheke verschwinden Frequenz, Versorgungssicherheit, die Verbindung zum lokalen Handel – es folgen Umsatzrückgänge in benachbarten Läden, Leerstände, eine schleichende Erosion des öffentlichen Lebens. Dass die Apothekenpolitik auf diese Entwicklung seit Jahren mit regulatorischen Worthülsen und Reformsimulationen reagiert, ist Ausdruck einer politischen Selbsttäuschung, die den Ernst der Lage verkennt.
Doch die Verantwortung darf nicht allein der Bundespolitik zugeschoben werden. Auch die Kommunen müssen sich fragen lassen, ob sie frühzeitig genug mit den Akteuren vor Ort gesprochen, ob sie Konzepte entwickelt, Perspektiven geboten, Potenziale aktiviert haben. Und ja, auch Apothekerinnen und Apotheker müssen hinterfragen, ob die eigenen Ansprüche an Wirtschaftlichkeit und Arbeitsbelastung langfristig tragfähig bleiben – oder ob es nicht doch gemeinsame Modelle geben könnte, um Standorte zu sichern, statt sie sich selbst zu überlassen.
Besonders eindrucksvoll war beim Bayerischen Apothekertag der Schulterschluss mit der ärztlichen Selbstverwaltung. Wenn Christian Pfeiffer offen zugibt, dass sich viele Praxen auf dem Land nicht mehr übergeben lassen, offenbart das eine doppelte Bruchlinie: Die Krise betrifft nicht nur Apotheken, sondern das gesamte Fundament medizinischer Versorgung. Wer glaubt, Ärzte und Apotheken ließen sich getrennt denken oder reformieren, versteht weder das System noch seine Verwundbarkeit.
Die strukturelle Krise der Apotheken ist kein regionales Randthema. Sie ist ein Spiegelbild einer Gesellschaft, die ländliche Räume rhetorisch aufwertet, praktisch aber preisgibt. Das Prinzip des „Rückzugs ohne Aufschrei“ hat Methode – und wird durch fehlende Nachwuchskonzepte, unterfinanzierte Versorgungsverträge und eine toxische Bürokratie weiter beschleunigt. Statt Förderung gibt es Misstrauen, statt Autonomie Regularien, statt Planungssicherheit Lippenbekenntnisse.
Was fehlt, ist ein realistisches, aber mutiges Bekenntnis zur wohnortnahen Versorgung. Die Idee, kleine Betriebe gezielt zu stützen – unabhängig davon, ob sie in städtischen oder ländlichen Gebieten liegen – wäre ein möglicher Paradigmenwechsel. Ebenso die Einbindung kommunaler Ressourcen zur Standortentwicklung. Doch all das setzt eines voraus: ein politisches Bewusstsein, dass Apotheken nicht nur Orte des Arzneimittelverkaufs sind, sondern systemrelevante Pfeiler der öffentlichen Gesundheitsarchitektur.
Die Schlussrunde der Diskussion in Regensburg machte Hoffnung – aber auch deutlich, wie dünn die Luft wird. Wenn Bürgermeister öffentlich für ihre Orte werben müssen, wenn Funktionäre um Vertrauen bitten, wenn Apothekenpräsidenten Dienstreduktionen als Entlastung verkaufen müssen, während die Realität Leerstände, Nachwuchsmangel und wirtschaftliche Not heißt, dann ist das kein Fortschritt – sondern Notbetrieb.
Jetzt ist der Zeitpunkt, den Rückbau nicht weiter zu verwalten, sondern die politische Kehrtwende einzuleiten. Wer den letzten Apothekenschlüssel eines Ortes akzeptiert, ohne Alternativen zu schaffen, akzeptiert auch das Scheitern eines zentralen gesellschaftlichen Versprechens. Und das sollte niemanden gleichgültig lassen.
Fixhonorar, Digitalisierung, Versorgungssicherheit
Apotheker fordern mehr Verlässlichkeit von der Politik, um Schließungen zu stoppen
Mit einem kraftvollen Appell für wirtschaftliche Stabilität, politische Verlässlichkeit und mehr Wertschätzung seitens der Politik ist der Bayerische Apothekertag in Regensburg zu Ende gegangen. Apothekerinnen und Apotheker forderten nicht nur eine spürbare Honoraranpassung, sondern auch konkrete Maßnahmen zur Sicherung der flächendeckenden Arzneimittelversorgung. Trotz positiver Signale aus dem neuen Koalitionsvertrag bleibt die Skepsis im Berufsstand groß – zu oft habe man erlebt, dass wohlklingende Ankündigungen nicht in politische Realität münden.
Thomas Benkert, Präsident der Bayerischen Landesapothekerkammer, betonte bei der Eröffnung die zentrale Rolle der Apotheken für die Gesundheitsversorgung: Sie seien unverzichtbare Infrastruktur, persönliche Anlaufstelle und heilberufliche Vertrauensinstanz. Der Rückgang an Betrieben sei ein massiver Einschnitt, nicht nur für alte Menschen in ländlichen Regionen, sondern für das gesamte Versorgungssystem. Die Politik müsse endlich anerkennen, dass Apotheken mehr leisten als bloße Medikamentenabgabe – sie sichern flächendeckende Versorgung, bieten Prävention, Impfungen und individuelle Beratung, die kein Chatbot ersetzen kann.
Der Bayerische Apothekertag war nicht nur ein Forum für Forderungen, sondern auch ein Ort politischer Versprechen. In Videobotschaften und Redebeiträgen bekannten sich Vertreter aller Regierungsparteien zur Rolle der Präsenzapotheken. CSU-Gesundheitspolitiker Bernhard Seidenath nannte den Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zur Gleichstellung von Vor-Ort-Apotheken gegenüber Versandhändlern. Geplant sei eine Erhöhung des Fixhonorars auf 9,50 Euro, im ländlichen Raum sogar darüber hinaus. Bürokratieabbau, Impferweiterung und die Abschaffung des Skontoverbots sollen zusätzliche Erleichterung bringen. Nullretaxationen aus formalen Gründen werde es künftig nicht mehr geben.
Doch bei aller Zustimmung zur politischen Rhetorik forderten die Standesvertreter konkrete Taten. Hans-Peter Hubmann, Vorsitzender des Bayerischen Apothekerverbands, erinnerte daran, dass viele Apotheken nicht aus Überzeugung schließen, sondern aus betriebswirtschaftlicher Not. Die Erhöhung des Mindestlohns werde selbst bei leichtem Fixumsanstieg schnell verpuffen, wenn keine dynamische Anpassung erfolge. Eine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation sei unabdingbar, auch um Fachkräfte zu binden und Nachwuchs zu gewinnen. Denn das Zukunftsmodell Apotheke könne nur bestehen, wenn junge Pharmazeuten sich auch beruflich sicher und gewertschätzt fühlten.
SPD-Politiker Steve Brachwitz und der Freie-Wähler-Abgeordnete Anton Rittel zeigten sich offen für eine Reformagenda, die Versorgungssicherheit mit wirtschaftlicher Tragfähigkeit verknüpft. Rittel hob die Potenziale digitaler Brückentechnologien wie E-Rezept und Botendienste hervor, machte aber deutlich, dass sie das persönliche Gespräch nicht ersetzen könnten. Brachwitz betonte die Bedeutung wohnortnaher Versorgung: Apotheken seien oft erste Anlaufstelle – und manchmal letzte Hoffnung.
Das ABDA-Positionspapier »In eine gesunde Zukunft mit der Apotheke« fand über Parteigrenzen hinweg Anerkennung. Es sei ein konstruktiver Beitrag zur Reformdebatte und beweise die Bereitschaft des Berufsstands, Verantwortung zu übernehmen. Doch ohne finanzielle Unterfütterung bleibe jedes Konzept zahnlos. Die Sonderentgelte für Allgemeinwohlaufgaben, so Hubmann, müssten ebenso angehoben werden wie das Fixum. Denn auch wenn Krankenkassen nach Einsparungen riefen – Apotheken seien nicht Teil des Problems, sondern ein Teil der Lösung. Ihre Leistungen müssten künftig wieder angemessen vergütet werden.
Im Rückblick bleibt der Apothekertag ein Moment der vorsichtigen Hoffnung. Die neue Landesregierung hat die Erwartungen geschürt – nun kommt es auf die Umsetzung an. Die Apothekerschaft signalisiert Dialogbereitschaft, doch die Geduld schwindet. Denn ohne wirtschaftliche Perspektive und klare politische Entscheidungen wird es keine »Apotheke der Zukunft« geben.
Der Bayerische Apothekertag offenbart eine doppelte Wahrheit: Einerseits ist der Wille zur Reform, zur politischen Anerkennung und zur Einbindung der Apotheken ins moderne Gesundheitswesen spürbar – andererseits offenbart sich ein strukturelles Misstrauen, genährt durch Jahre leerer Versprechen. Die Apotheker stehen nicht mehr nur an einem wirtschaftlichen Wendepunkt, sondern auch an einem mentalen. Zwischen Hoffnung und Skepsis verläuft die Linie, an der sich die Zukunft des Berufsstands entscheidet.
Die Koalitionsvereinbarung enthält tatsächlich viele Elemente, die eine Trendumkehr einleiten könnten. Fixhonorar, Sonderentgelte, Bürokratieabbau – all das sind richtige Schritte. Aber ihre Wirkung verpufft, wenn sie nicht sofort und vollständig umgesetzt werden. Dass es bislang an einem klaren Zeitplan und einer gesetzlichen Verankerung fehlt, lässt viele Apotheker zweifeln. Die Politik muss zeigen, dass sie nicht nur ein Verständnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem lösen will.
Besonders dramatisch ist, dass immer mehr Apotheken schlicht betriebswirtschaftlich aufgeben – nicht aus Desinteresse, sondern weil der finanzielle Rahmen nicht mehr trägt. Eine Anpassung des Fixums ist deshalb keine Forderung aus Gier, sondern aus Notwendigkeit. Der Beruf wird unattraktiv für Nachwuchs, wenn das wirtschaftliche Fundament fehlt. Dass engagierte Apothekerinnen und Apotheker schließen, während der Versandhandel wächst, ist ein systemisches Warnsignal – nicht nur für Bayern.
Gleichzeitig zeigt der Apothekertag auch die ungebrochene Bereitschaft des Berufsstands, mitzudenken, sich einzubringen und Lösungen mitzugestalten. Das Positionspapier der ABDA ist ein starkes politisches Angebot – es liegt nun an der Politik, es anzunehmen. Wer die Apotheke der Zukunft will, muss jetzt die Grundlagen dafür schaffen. Die Apothekerschaft hat geliefert. Jetzt muss der Gesetzgeber liefern – und zwar schnell, konkret und mit messbaren Verbesserungen.
Die Apotheke vor Ort ist kein nostalgisches Relikt, sondern eine Notwendigkeit in einem System, das auf Menschlichkeit, Nähe und Verlässlichkeit angewiesen ist. Wenn der politische Mut ausbleibt, werden wir bald nicht mehr über die Reform der Apotheken sprechen, sondern über ihr schleichendes Verschwinden. Dann ist das Versorgungsproblem kein theoretisches mehr – sondern ein realer Einschnitt in unser Gesundheitswesen.
Apothekenfixum, Koalitionsvertrag, Ressortstreit
Streit um Zuständigkeit blockiert Umsetzung der Honorarreform für Apotheken
Die Zukunft des Apothekenfixums ist erneut Gegenstand politischer Abstimmung zwischen zwei Bundesministerien, die sich über die Zuständigkeit für die Umsetzung einer der zentralen gesundheitspolitischen Zusagen der neuen Bundesregierung bislang nicht einigen konnten. Dabei geht es um weit mehr als eine rein formale Frage: Die geplante Anhebung des Apothekenfixums auf 9,50 Euro ist eine der wenigen verbliebenen Maßnahmen, mit der die aktuelle Bundesregierung auf die wirtschaftliche Not vieler Apotheken vor Ort reagieren will. Doch obwohl die politische Zusage im Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD verankert ist, bleibt die konkrete Umsetzung unklar – ebenso wie die Frage, ob das Bundesgesundheitsministerium (BMG) oder das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) künftig über die Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) entscheidet.
In der vergangenen Legislaturperiode scheiterte die Ampelkoalition trotz mehrerer Anläufe daran, die Zuständigkeit für die AMPreisV vom Bundeswirtschaftsministerium ins BMG zu verlagern. Gescheitert ist dieser Schritt nicht an technischen Details, sondern an politischen Prioritäten und Zuständigkeitskonflikten. Mit dem Regierungswechsel hat sich die personelle und thematische Struktur in beiden Ministerien verändert, doch die institutionelle Blockade besteht weiter – mit unmittelbaren Folgen für die Apothekenlandschaft. Der neue Koalitionsvertrag enthält zwar die konkrete Zusage, das Fixhonorar auf 9,50 Euro zu erhöhen und insbesondere Landapotheken strukturell zu fördern. Doch weder ein Zeitplan noch eine abgestimmte gesetzgeberische Route sind bisher erkennbar.
Ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums erklärte auf Anfrage lediglich, dass man »die Pläne gesamthaft betrachten und entsprechend umsetzen« müsse. Gleichzeitig verwies man darauf, dass für Fragen der Arzneimittelversorgung grundsätzlich das BMG federführend sei. Die Regelung der Preisverordnung liegt jedoch weiterhin beim BMWK, was de facto bedeutet, dass ohne dessen Mitwirkung auch keine Honorarerhöhung beschlossen werden kann. Das Bundesgesundheitsministerium wiederum sieht sich mit einer wachsenden Liste unerledigter Reformprojekte konfrontiert – vom E-Rezept über die Notdienstpauschale bis zur Neustrukturierung pharmazeutischer Dienstleistungen – und hat dem Vernehmen nach derzeit keine Kapazitäten, um die AMPreisV prioritär an sich zu ziehen. Diese strukturelle Lähmung in der Ministerialverwaltung hat zur Folge, dass die Umsetzung eines der sichtbarsten Versprechen der Koalition auf unbestimmte Zeit vertagt wird.
Gleichzeitig wächst der wirtschaftliche Druck auf die Apotheken weiter. Während Betriebskosten steigen und die Zahl der Schließungen auch 2025 deutlich über dem Vorjahresniveau liegt, sehen sich viele Inhaberinnen und Inhaber mit der paradoxen Situation konfrontiert, dass politische Unterstützung zwar angekündigt, aber nicht geliefert wird. Gerade in ländlichen Regionen, wo das wirtschaftliche Überleben oft an wenigen Rezepten hängt, stellt die versprochene Fixhonorarerhöhung für viele Betriebe den Unterschied zwischen Weiterführung und Aufgabe dar. In den betroffenen Kammerbezirken mehren sich Stimmen, die eine schnelle Klärung der Zuständigkeit fordern. Auch Apothekerverbände kritisieren zunehmend lautstark, dass die strukturellen Versäumnisse der Politik zu einer gezielten Aushöhlung der wohnortnahen Versorgung führen.
Ein besonderes Problem besteht darin, dass mit der angekündigten Honorarerhöhung zugleich auch ein Systemwechsel vorbereitet wird: Künftig sollen Apotheken und Krankenkassen das Fixhonorar selbst verhandeln können – ein Modell, das insbesondere bei Landapotheken für Skepsis sorgt. Die Sorge besteht, dass regionale Verhandlungsmacht und Verfügbarkeit von Kassenverträgen noch weiter auseinanderdriften könnten. Während große Ketten oder Verbünde unter Umständen bessere Konditionen erzielen könnten, drohen kleinere Einheiten ohne organisatorische Rückendeckung in einer neuen Marktordnung unterzugehen. Der politische Wille zur Stärkung ländlicher Apotheken wird dadurch aus Sicht vieler Betroffener konterkariert.
Die kommunikative Zurückhaltung der beteiligten Ressorts verschärft die Unsicherheit zusätzlich. Keine klare Zeitlinie, keine Definition der gesetzlichen Umsetzungsschritte, keine verbindlichen Aussagen zur künftigen Struktur der AMPreisV – all dies lässt den Eindruck entstehen, dass die Apothekenpolitik weiterhin eher verwaltet als gestaltet wird. Dabei sind es gerade die Präsenzapotheken, die in den vergangenen Krisenjahren ihre Systemrelevanz mehrfach unter Beweis gestellt haben – bei Pandemiebewältigung, Impfkampagnen, Lieferengpässen oder im Rahmen der pharmazeutischen Dienstleistungen. Die politische Anerkennung dieser Leistung bleibt jedoch diffus und fragmentarisch.
Entscheidend für die kommenden Monate wird daher sein, ob sich das neue Kabinett auf eine eindeutige Zuständigkeitsstruktur verständigt – und damit die Voraussetzungen für eine zügige Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen schafft. Die Ministerien stehen unter Zugzwang: Jede weitere Verzögerung könnte nicht nur die wirtschaftliche Substanz vieler Apothekenbetriebe gefährden, sondern auch die Glaubwürdigkeit der Koalition in einem zentralen Politikfeld weiter beschädigen. Für viele Apothekeninhaberinnen und -inhaber ist der Streit um das Fixhonorar längst nicht mehr nur eine Frage der Vergütung, sondern eine Frage des politischen Willens zur Sicherung einer flächendeckenden, unabhängigen Arzneimittelversorgung in Deutschland.
Es ist ein politisches Lehrstück in deutscher Bürokratie: Zwei Ministerien, ein Koalitionsvertrag, ein Versprechen – und dennoch keine Entscheidung. Die Debatte um das Apothekenfixum zeigt exemplarisch, wie eine scheinbar administrative Frage zur Achillesferse einer gesamten gesundheitspolitischen Strategie werden kann. Denn im Kern geht es nicht nur um 9,50 Euro pro Rezept, sondern um die Frage, wie viel der Politik die inhabergeführte Präsenzapotheke in Zeiten der Zentralisierung, Digitalisierung und Plattformökonomie noch wert ist.
Die neuerliche Blockade zwischen dem Bundesgesundheits- und dem Bundeswirtschaftsministerium ist nicht nur Ausdruck eines ungelösten Zuständigkeitsstreits, sondern auch Symptom einer tieferliegenden Unentschlossenheit. Wer ernsthaft die wohnortnahe Arzneimittelversorgung sichern will, muss dafür sorgen, dass zentrale Steuerungsinstrumente wie die Arzneimittelpreisverordnung nicht länger zum Spielball ministerieller Abgrenzung werden. Stattdessen erleben wir ein behäbiges Verwalten, bei dem jede Bewegung im politischen Raum mit Rücksicht auf Ressortgrenzen abgestimmt werden muss – selbst wenn dies bedeutet, dass konkrete Hilfen für Apotheken im Status des politisch Gewollten verharren.
Dass ausgerechnet in einem Koalitionsvertrag eine Honorarerhöhung zugesagt wird, ohne zuvor die Umsetzbarkeit auf ministerialer Ebene zu sichern, zeugt von mangelnder politischer Sorgfalt. Diese Nachlässigkeit wird umso dramatischer, je länger die strukturellen Probleme der Apotheken ungelöst bleiben. Die wirtschaftlichen Fundamentaldaten sprechen eine klare Sprache: Die Betriebskosten steigen, der Personalmarkt ist ausgedünnt, die Zahl der Betriebsaufgaben nimmt zu – und die politische Antwort darauf besteht bislang aus wohlmeinenden Absichtserklärungen ohne exekutive Durchschlagskraft.
Was jetzt gebraucht wird, ist kein weiteres Abwarten, sondern ein entschlossenes Handeln. Die Bundesregierung steht in der Verantwortung, nicht nur die formale Zuständigkeit zu klären, sondern endlich ein belastbares Verfahren zur Umsetzung der Honorarerhöhung auf den Weg zu bringen. Dabei darf es nicht um ministeriale Eitelkeiten oder Ressorthoheiten gehen, sondern um die Frage, wie schnell und wie wirkungsvoll die politische Willensbildung in konkrete Entlastung für die Apotheken vor Ort übersetzt werden kann.
Ein Scheitern an dieser Aufgabe hätte weitreichende Folgen. Nicht nur ökonomisch, sondern auch gesellschaftlich. Denn Apotheken sind weit mehr als bloße Rezeptabgabestellen. Sie sind niedrigschwellige Gesundheitsdienstleister, Beratungseinrichtungen, Sicherheitsanker im ländlichen Raum – und sie sind verletzlich. Eine Politik, die diese Struktur ausbluten lässt, wird am Ende mehr verlieren als ein paar Prozentpunkte Versorgungssicherheit. Sie verliert Vertrauen. Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates, in die Verlässlichkeit politischer Zusagen und in die Zukunftsfähigkeit eines Gesundheitssystems, das sich zunehmend in technokratische Widersprüche verstrickt.
Wenn der Koalitionsvertrag mehr sein soll als ein geduldiges Papier, dann müssen BMG und BMWK nun ihre Hausaufgaben machen – gemeinsam, schnell und mit der nötigen Priorität. Das Apothekenfixum ist nicht nur eine Zahl, sondern ein Symbol. Und jedes weitere Schweigen der Politik sendet ein fatales Signal an eine Branche, die längst am Rand ihrer Belastungsgrenze operiert.
Vertrauen, Vernetzung, Verdienst
Mit KI-Assistenz, Chatberatung und Rabattecken forciert Nordrhein die Selbstmedikation in der Offizin
Die Selbstmedikation steht im Zentrum einer neuen Strategieoffensive nordrheinischer Apotheken. Beim Auftakt der Veranstaltungsreihe "Selbstmedikation – Eine Win-Win-Situation für Patienten und Apotheken" in Essen demonstrierten Kammer und Verband ein geschlossenes Bild: Die Offizin bleibt unverzichtbar, wenn sie ihre heilberufliche Kompetenz sichtbar macht, digitale Hilfsmittel sinnvoll einbindet und mit Ideenreichtum Kundenbindung schafft. Armin Hoffmann, Präsident der Apothekerkammer Nordrhein, wies die Angst vor einem OTC-Abwandern in den Versandhandel zurück: Die Mehrheit vertraue der Apotheke vor Ort. Doch gleichzeitig forderte er mehr Initiative im Beratungsgespräch. Die unaufgeforderte pharmazeutische Beratung sei ausbaufähig.
Mit diesem Impuls startete eine Tagung voller Praxisbeispiele: Apothekerin Anke Kock führte durch typische Hemmschwellen in Beratungsgesprächen und plädierte für mehr Sensibilität gegenüber latenten Bedarfen. Oft verberge sich hinter dem Wunsch nach einem bestimmten Produkt ein tiefer liegendes Problem. Die Teams müssten lernen, Bedarfe empathisch zu erfassen.
Silke Stütz vom Apothekerverband Nordrhein unterstrich den Marktwert: Jedes zweite Arzneimittel sei ein OTC-Präparat, das ohne Arztkontakt abgegeben werde. Mehr als eine Million Beratungsgespräche jährlich allein in NRW sprächen eine deutliche Sprache. Doch nicht nur die Menge, sondern die Qualität sei entscheidend: Die Apotheke sei oft letzte Instanz vor der Einnahme.
Gesundheitsökonom Andreas Kaapke richtete den Blick auf gesetzliche Grundlagen: Selbstmedikation sei kein freier Markt für souveräne Konsumenten, sondern ein regulierter Bereich mit heilberuflicher Verantwortung. Deshalb sei auch der Einstieg der Drogeriekette dm in den OTC-Versand kein Alarmzeichen, sondern ein Signal für die wirtschaftliche Relevanz der Apotheke.
Wie Apothekenteams konkret auf neue Kundenansprüche reagieren können, demonstrierten mehrere Praxisbeispiele: Apotheker Marc Kriesten nutzt kuratiertes KI-Wissen – etwa ChatGPT – zur Verbesserung der Selbstmedikationsberatung, unter Einbindung patientenspezifischer Parameter. Parallel würden Systeme wie "Ask Stella" oder "Frag die PZ" in der Warenwirtschaft eingesetzt.
Steffen Kuhnert verfolgt das Konzept hybrider Versorgung: Er will mit der App "Frag die Apotheke" digitale Erreichbarkeit sicherstellen, während Gence Polat mit einem Expressbotendienstmodell regionalen Zusammenschlüssen neue Effizienz verleiht. Seine lokale Kooperation spart laut eigenen Angaben bis zu 65 Prozent der Logistikkosten.
Kathrin Luboldt und Julian Gorski erarbeiteten mit Teams Sichtwahlstrategien: Empfohlene Produkte werden gemeinsam priorisiert, Plazierungen rotieren, sogar Rabattzonen sind erlaubt – wenn sie klar markiert und als Teil des Kundenservices kommuniziert werden. Die Philosophie: Sichtwahl als lebendiges Projekt, nicht als statisches Regalbild.
Social-Media-Strategien stellte Apothekerin Janet Olgemüller vor: Gerade heikle Themen könnten Reichweite schaffen. Produktnennungen seien allerdings heikel, Personalrekrutierung hingegen ein echter Bonus. Apotheker Dirk Vongehr verwies auf die Bedeutung des Kundenerlebnisses: Die Preisfrage sei sekundär, wenn das Ambiente und die Interaktion stimmten.
Die abschließende Podiumsdiskussion machte klar, dass Selbstmedikation mit professioneller Begleitung nicht nur Versorgungsqualität sichert, sondern auch wirtschaftliche Chancen birgt. Patientenvertreterin Sabine Härter wies auf Informationslücken bei Ärzten hin – oft seien es Apotheker, die kritische Wechselwirkungen erkennen. Die Apotheke sei überlebenswichtig, aber sie müsse länger erreichbar, digital sichtbar und unternehmerisch handlungsfähig bleiben.
Die Apotheke der Zukunft wird ihre Kunden nicht über den Preis gewinnen, sondern über kluge Kombinationen aus heilberuflicher Kompetenz, digitaler Nahbarkeit und unternehmerischem Mut. Was die Apothekerinnen und Apotheker in Nordrhein am Wochenende skizziert haben, ist nicht weniger als ein Paradigmenwechsel: Weg von der reinen Produktabgabe, hin zu einer aktiven Gestaltung der Selbstmedikation als heilberufliche Kernaufgabe. Wer dem Kunden zuhört, Bedarfe empathisch erschließt und mit digitaler Intelligenz kombiniert, bleibt sichtbar – nicht trotz Versandhandel, sondern wegen seiner Schwächen.
Denn die vermeintliche Bequemlichkeit der Versender wird oft überlagert von schlechter Erreichbarkeit, algorithmischer Beratung und einem Mangel an zwischenmenschlicher Qualität. Genau hier liegt die Chance der Vor-Ort-Apotheke: nicht im Preis, sondern in der Erfahrung. Sichtwahl, Chatberatung, KI-gestützte Empfehlungen und hybride Botendienste sind keine Spielereien, sondern Instrumente eines modernen Gesundheitsdienstleisters.
Der Kunde wird nicht digital oder analog sein wollen, sondern beides. Wer als Apotheke präsent bleibt – auf der Zeche Zollverein wie am Smartphone, in der Beratungsecke wie im Rabattsystem –, sichert sich nicht nur Umsatz, sondern Relevanz. Insofern ist das Projekt der nordrheinischen Apothekerschaft auch ein Signal an die Politik: Wer Selbstmedikation stärken will, darf heilberufliche Kompetenz nicht durch Preisvergleichsportale ersetzen. Sondern muss sie anerkennen, stützen und in der Versorgungsstruktur halten.
Die Zeit der Rechtfertigung ist vorbei. Jetzt ist die Zeit des Handelns. Nordrhein macht vor, wie es geht. Die anderen Kammern sollten bald folgen.
Antibiotika-Produktion, De-Risking-Versprechen, EU-Industriepolitik im Test
Europa will unabhängiger werden, doch der letzte Hersteller wichtiger Wirkstoffe zieht nach China
Während europäische Politiker in Sonntagsreden die strategische Unabhängigkeit von China betonen und in Entwürfen wie dem „Critical Medicines Act“ ehrgeizige Ziele formulieren, geschieht in der industriellen Realität das Gegenteil: Der dänische Arzneimittelhersteller Xellia Pharmaceuticals kündigte vergangene Woche an, seine Produktionsanlage für Antibiotikawirkstoffe in Kopenhagen zu schließen und einen wesentlichen Teil der Fertigung nach China zu verlagern. Damit verliert Europa nicht nur seinen letzten breit aufgestellten Hersteller zentraler antimikrobieller Wirkstoffe, sondern auch ein wesentliches Stück seiner pharmazeutischen Handlungsfähigkeit.
Xellia Pharmaceuticals war bislang das einzige Unternehmen in Europa, das eine Vielzahl lebenswichtiger Antibiotika-Grundstoffe vollständig selbst produzierte. Die Fabrik in der dänischen Hauptstadt galt als industrielles Rückgrat für kritische Wirkstoffe wie Vancomycin, Colistin oder Gentamicin – Medikamente, die vor allem bei schweren Krankenhausinfektionen mit multiresistenten Erregern eingesetzt werden. Nun begründet das Unternehmen den Rückzug mit dem steigenden Preisdruck, nicht kostendeckender Vergütung durch europäische Gesundheitssysteme und einer politischen Umgebung, die in ihrer Ambition weit hinter den ökonomischen Realitäten zurückbleibt. Zwar soll ein Werk in Ungarn erhalten bleiben, doch auch dort sei die langfristige Perspektive unklar.
Die Ankündigung kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die Debatte um Europas Abhängigkeit von außereuropäischen Produktionsstandorten eine neue Dringlichkeit erreicht hat. Politische Spannungen, Unterbrechungen globaler Lieferketten, Pandemien und geopolitische Umbrüche wie der Ukraine-Krieg haben gezeigt, wie fragil die Versorgung mit essenziellen Medikamenten sein kann. Laut Zahlen der Europäischen Kommission werden mehr als 80 Prozent der pharmazeutischen Grundstoffe inzwischen in Asien produziert – der größte Teil davon in China. Gerade bei Antibiotika ist der Konzentrationsgrad besonders hoch.
Dabei hatte sich die Bundesregierung ambitionierte Ziele gesetzt. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition ist explizit von einer „systemischen Rivalität“ mit China die Rede. Der Begriff „De-Risking“ – also das gezielte Verringern strategischer Abhängigkeiten – ist zur Formel der außenwirtschaftlichen Strategie geworden. Doch was auf dem Papier nach sicherheitspolitischer Weitsicht klingt, lässt sich offensichtlich nicht in wirtschaftliche Realität übersetzen. Die Produktionskosten in Europa steigen, vor allem durch Energiepreise, regulatorische Anforderungen und Arbeitskosten. Gleichzeitig sind die Preisniveaus im Arzneimittelsektor durch jahrelange Rabattverträge, Festbeträge und die Budgetlogik der Kassen so ausgehöhlt, dass selbst effiziente Produktionsstandorte nicht mehr kostendeckend wirtschaften können.
Die Folge ist eine paradoxe Situation: Während die Politik lautstark das Reshoring, also die Rückverlagerung der Arzneimittelproduktion nach Europa, fordert, verlässt ausgerechnet das letzte Unternehmen mit eigener, breiter Wirkstoffproduktion den Kontinent. Die EU-Kommission reagierte im März mit einem Vorschlag für einen „Critical Medicines Act“, der strategische Produktionsvorhaben gezielt fördern und Engpässe vermeiden soll. Doch dieser Vorschlag steckt noch in der legislativen Abstimmung, Förderprogramme sind unzureichend finanziert, Genehmigungsprozesse langwierig – und für viele Unternehmen schlicht zu spät.
Xellia-CEO Michael Kocher brachte es im Interview mit der „Financial Times“ auf den Punkt: Es reiche nicht, über Reshoring zu reden, wenn gleichzeitig bestehende Produktionskapazitäten keine Überlebenschancen hätten. Europa müsse bereit sein, für Versorgungssicherheit auch höhere Preise zu zahlen. Gesundheit sei keine Billigware. Dass dieser Appell in Brüssel und Berlin gehört wird, darf bezweifelt werden.
Mit dem Rückzug von Xellia stellt sich nicht nur die Frage nach der Versorgungssicherheit, sondern auch nach der industriellen Zukunft des Pharmastandorts Europa. Der Verlust der Antibiotikaproduktion ist dabei mehr als ein wirtschaftlicher Rückschritt – es ist ein strategisches Risiko von gesundheitspolitischer Tragweite. Wenn künftig Lieferengpässe auftreten, wird es keine kurzfristige Lösung mehr geben. Ohne eigene Produktionskapazitäten sind europäische Gesundheitssysteme erpressbar – wirtschaftlich, politisch und strategisch.
Dass ein Unternehmen wie Xellia nicht zu halten ist, obwohl die politischen Warnungen vor Abhängigkeit täglich lauter werden, offenbart eine doppelte Systemschwäche: Die Industriepolitik scheitert an sich selbst, und das Gesundheitswesen blockiert seine eigene Sicherheit durch ökonomische Kurzsichtigkeit. Während Ministerien über Souveränität sprechen, verschwindet diese leise durch die Werkstore europäischer Produktionsstätten. Was bleibt, ist eine wachsende Lücke – in der Versorgung, in der politischen Glaubwürdigkeit und in der industriellen Handlungsfähigkeit eines ganzen Kontinents.
Es ist ein leiser Abschied mit dramatischen Folgen. Wenn Xellia Pharmaceuticals die Türen seiner Produktionsstätte in Kopenhagen schließt, verabschiedet sich Europa nicht nur von einem Produktionsstandort – es verliert eine seiner letzten industriellen Bastionen in einem kritischen Bereich der Gesundheitsversorgung. Und mit ihm schwindet das, was in politischen Papieren so gern beschworen wird: die strategische Autonomie Europas.
Die Entscheidung des Unternehmens ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines tiefsitzenden Strukturproblems. Die europäische Arzneimittelversorgung ist in ein Korsett aus Kostendruck, politischen Lippenbekenntnissen und regulatorischer Trägheit geschnürt. Jahrzehntelang hat man sich auf den globalisierten Markt verlassen, der alles effizienter, billiger und scheinbar sicherer machte. Diese Illusion ist in Zeiten geopolitischer Unsicherheiten zerbrochen – doch die wirtschaftlichen und politischen Mechanismen haben sich nicht angepasst.
Dass Xellia als letzter seiner Art in Europa keine Perspektive sieht, ist nicht das Versagen eines Unternehmens, sondern das Versagen eines Systems. Der politische Wille, Lieferketten zu sichern, ist vorhanden – aber er scheitert an einem Gesundheitswesen, das auf Billigpreise konditioniert ist, und an einem politischen Apparat, der zwar Strategiepapiere produziert, aber keine marktwirksamen Anreize schafft. Selbst die geplanten Maßnahmen im Rahmen des „Critical Medicines Act“ kommen zu spät und sind viel zu zaghaft, um industrielle Entscheidungen zu beeinflussen, die heute getroffen werden.
Was hier geschieht, ist kein gewöhnlicher Standortverlust. Es ist ein sicherheitspolitischer Kontrollverlust. In einer Welt, in der Medikamente zunehmend zur strategischen Ressource werden, gibt Europa ausgerechnet in einem Bereich auf, der im Fall einer Krise über Leben und Tod entscheidet. Und das nicht wegen eines plötzlichen Schocks, sondern weil man strukturell und politisch nicht bereit ist, den Preis für Versorgungssouveränität zu zahlen.
Was gebraucht wird, ist ein radikales Umdenken. Wer europäische Produktion will, muss europäische Preise ermöglichen. Wer De-Risking verspricht, muss Versorgungssicherheit zur Priorität machen – nicht zur Fußnote. Und wer glaubt, dass globale Abhängigkeiten durch Förderprogramme allein beherrschbar sind, der hat weder die Dynamik industrieller Entscheidungen noch die Realität internationaler Wettbewerbsfähigkeit verstanden.
Europa droht an seiner eigenen Ambivalenz zu scheitern. Während man mit großem Pathos von Resilienz und strategischer Autonomie spricht, verlieren industrielle Akteure täglich den Glauben an den Standort. Wenn dieser Trend anhält, bleibt Europa bald nicht mehr als ein Absatzmarkt – ohne Produktion, ohne Kontrolle, ohne Einfluss.
Genanalysen, Polymorphismen, Arzneimittelrisiko
Jede zehnte Nebenwirkung ließe sich durch genetische Tests vermeiden
Eine breit angelegte Auswertung britischer Gesundheitsdaten zeigt, dass rund zehn Prozent aller berichteten unerwünschten Arzneimittelwirkungen auf eine genetische Prädisposition zurückgehen. Der Zusammenhang ist nicht nur statistisch signifikant, sondern auch praktisch hochrelevant: In zahlreichen Fällen hätten Gentests vor Therapiebeginn das Risiko schwerer Nebenwirkungen verringern oder sogar ganz verhindern können. Forschende schlagen deshalb ein gezieltes Pilotprojekt vor, das Arzneimittel mit bekanntem genetischen Risiko systematisch identifiziert und in der klinischen Praxis mit präventiven Genanalysen begleitet.
Die Forschergruppe analysierte elektronische Gesundheitsakten von mehreren Millionen Patienten und fokussierte sich dabei auf sogenannte pharmakogenetische Risikogene. Gemeint sind genetische Varianten, die beeinflussen, wie ein Wirkstoff im Körper verstoffwechselt wird. Besonders häufig betroffen waren Gene wie CYP2C19, CYP2D6 oder HLA-B – genetische Marker, die unter anderem bei Antidepressiva, Antikoagulanzien, Schmerzmitteln oder Antiepileptika eine Schlüsselrolle spielen. Die Studienautoren konnten zeigen, dass rund 40 Prozent der untersuchten Nebenwirkungen aus genau jenen Medikamentenklassen stammen, die mit bekannten Risikogenen in Verbindung stehen.
Die Ergebnisse sind ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass die personalisierte Medizin kein theoretisches Konstrukt mehr ist, sondern unmittelbare Bedeutung für die Patientensicherheit hat. Besonders eindrücklich war der Fall eines Medikaments aus der Gruppe der NSAR, bei dem Patienten mit einer bestimmten Genvariante ein fast dreifach erhöhtes Risiko für schwere Hautreaktionen zeigten. In der heutigen Standardversorgung bleibt dieser Zusammenhang oft unentdeckt – mit dramatischen Folgen für die Betroffenen.
Das Forschungsteam empfiehlt, auf Basis der Daten ein strukturiertes Screening-Modell zu entwickeln, das sich auf die zehn Wirkstoffklassen mit dem höchsten genetischen Nebenwirkungspotenzial konzentriert. Die Idee: Patientinnen und Patienten sollen vor der Einnahme bestimmter Medikamente standardisiert auf relevante Genvarianten getestet werden. Die Tests könnten kostengünstig, routinemäßig und mit klar definierten Indikationen durchgeführt werden. Besonders bei Arzneien mit engem therapeutischen Fenster oder hoher Interaktionswahrscheinlichkeit wäre dies eine potenziell lebensrettende Maßnahme.
Gleichzeitig betonen die Forschenden, dass eine Umsetzung nur im Verbund mit Ethik, Aufklärung und Datenschutz erfolgen darf. Gentests bergen nicht nur medizinische Informationen, sondern werfen auch sensible Fragen zur Weiterverwendung, Speicherung und möglichen Diskriminierung auf. Daher brauche es einen integrativen Ansatz, der sowohl medizinisch-wissenschaftlich fundiert als auch rechtlich und gesellschaftlich verantwortbar gestaltet ist.
Die pharmakogenetische Dimension von Arzneimittelsicherheit war bislang kaum Teil der Versorgungspraxis. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit genomischer Daten und den sinkenden Kosten für Sequenzierungen könnte sich das ändern. Der britische Vorstoß liefert dafür eine belastbare Grundlage. Ob das Modell auch auf andere Gesundheitssysteme übertragbar ist, bleibt abzuwarten – das Potenzial für Prävention und Qualitätssicherung jedenfalls ist enorm.
Dass genetische Polymorphismen das Nebenwirkungsprofil von Arzneimitteln beeinflussen, ist seit Jahren bekannt. Dass dieses Wissen jedoch kaum systematisch genutzt wird, ist ein Versäumnis mit schwerwiegenden Folgen. Die nun vorgelegte Studie aus dem Vereinigten Königreich zeigt, wie konkret, wie praktisch relevant und wie potenziell lebensrettend Genanalysen vor Arzneimittelverordnungen sein könnten. Sie bringt eine neue Qualität in die Debatte – nicht mehr hypothetisch, sondern datenbasiert, epidemiologisch unterfüttert und konkret operationalisierbar.
Der pharmakogenetische Fortschritt wird seit Langem von der klinischen Trägheit überholt. Während Software- und Datenanwendungen in fast allen Bereichen der Medizin bereits Routine sind, bleibt der systematische Blick auf das individuelle Genprofil eines Patienten meist auf Spezialkliniken oder Forschungszentren beschränkt. Dabei sprechen die Zahlen eine klare Sprache: Jede zehnte vermeidbare Nebenwirkung ist nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern auch ein Kostenfaktor für das Gesundheitssystem – ganz zu schweigen von Haftungsrisiken für verordnende Ärztinnen und Ärzte.
Der Vorschlag eines Pilotprojekts ist deshalb mehr als naheliegend – er ist überfällig. Die Einführung strukturierter genetischer Vortests für ausgewählte Wirkstoffklassen ist keine Frage der Technik, sondern des politischen Willens, der regulatorischen Weitsicht und der Finanzierung. Ein solches Projekt könnte gleichzeitig Modellcharakter für andere Länder entfalten und das diffuse Schlagwort der personalisierten Medizin mit konkret umsetzbarem Inhalt füllen. Besonders in der Polypharmazie älterer Menschen, bei onkologischen Therapien oder bei der Versorgung mit Antidepressiva wären solche Genanalysen mit enormem Nutzen verbunden.
Natürlich müssen ethische Bedenken ernst genommen werden. Datenschutz, Einwilligung, Aufklärung und Missbrauchsschutz sind nicht zweitrangig – sie sind Voraussetzung für das Vertrauen in genetische Vorsorge. Aber wer deswegen auf systemische Genanalytik verzichtet, verwechselt Regulierung mit Verweigerung. In Wahrheit geht es um die intelligente Balance zwischen medizinischer Innovation und gesellschaftlicher Verantwortung.
Wenn jede zehnte Nebenwirkung vermeidbar ist, dann darf man nicht länger warten. Denn jede vermiedene Nebenwirkung bedeutet mehr Sicherheit, mehr Vertrauen und oft auch: mehr Leben.
Migräne, CGRP-Hemmung, Frühintervention: Ubrogepant zeigt Wirkung vor Schmerzbeginn
Früher Einsatz in der Prodromalphase reduziert Vorbotensymptome signifikant gegenüber Placebo
Migräne ist eine neurologische Erkrankung mit vielfältiger Symptomatik, deren Verlauf sich typischerweise in mehrere Phasen unterteilen lässt. Während die Schmerzphase bislang im Zentrum der therapeutischen Aufmerksamkeit stand, rückt nun die sogenannte Prodromalphase stärker in den Fokus der klinischen Forschung. Diese Vorphase beginnt meist mehrere Stunden bis zu zwei Tage vor dem eigentlichen Kopfschmerz und ist durch unspezifische, aber für viele Betroffene erkennbare Symptome wie Müdigkeit, Reizempfindlichkeit, Konzentrationsstörungen und Nackenverspannungen gekennzeichnet. Eine neue Nachauswertung klinischer Studiendaten zum CGRP-Rezeptorantagonisten Ubrogepant legt nun nahe, dass diese Symptome gezielt pharmakologisch beeinflusst werden können – noch bevor die eigentliche Schmerzattacke einsetzt.
Im Rahmen der ursprünglich zur Schmerzbehandlung konzipierten Phase-III-Studie wurde nun eine Subgruppe von rund 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern analysiert, die Ubrogepant bereits während der Prodromalphase erhalten hatten. Ziel war es, die Wirksamkeit des Wirkstoffs auf die Vorbotensymptome zu untersuchen. Die Resultate deuten darauf hin, dass eine frühe Intervention mit 100 mg Ubrogepant signifikant wirksamer ist als Placebo, wenn es um die Linderung einzelner Prodromalbeschwerden geht. Besonders deutlich waren die Unterschiede bei Symptomen wie Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Fatigue, Nackenverspannungen und Denkstörungen. So war die Absenz von Lichtempfindlichkeit zwei Stunden nach Einnahme bei 19,5 Prozent der Behandelten zu verzeichnen – gegenüber 12,5 Prozent in der Placebogruppe.
Auch bei Fatigue (27,3 versus 16,8 Prozent nach drei Stunden), Nackenbeschwerden (28,9 versus 15,9 Prozent nach drei Stunden) und Geräuschempfindlichkeit (50,7 versus 35,8 Prozent nach vier Stunden) zeigte sich ein überlegener Effekt von Ubrogepant. Auffällig war zudem der positive Einfluss auf kognitive Symptome: Bereits eine Stunde nach Einnahme hatten 8,7 Prozent keine Konzentrationsstörungen mehr, und nach sechs Stunden gaben 56,9 Prozent eine Besserung ihrer Denkschwierigkeiten an – im Vergleich zu lediglich 41,8 Prozent im Placeboarm.
Die besonders lang anhaltende Wirkung zeigte sich beim Symptom Schwindel: 24 Stunden nach Einnahme berichteten 88,5 Prozent der Ubrogepant-Gruppe über Beschwerdefreiheit – deutlich mehr als die 82,3 Prozent unter Placebo. Diese Daten markieren ein potenziell neues Kapitel in der Akuttherapie der Migräne, bei der nicht nur das akute Schmerzgeschehen, sondern bereits die präklinische Entwicklung der Attacke beeinflusst werden könnte. Ubrogepant gehört zur Substanzgruppe der sogenannten Gepante, die auf den CGRP-Rezeptor zielen – ein Mechanismus, der als Schlüsselstruktur in der Pathophysiologie der Migräne gilt.
Während Ubrogepant in den USA seit 2019 für die akute Migränebehandlung zugelassen ist, stehen in Europa bislang nur Atogepant zur Prophylaxe und Rimegepant für beide Einsatzbereiche zur Verfügung – letzteres allerdings noch nicht auf dem deutschen Markt. Der Einsatz von Gepanten in der Frühphase einer Migräne wäre insbesondere deshalb attraktiv, weil sie nach bisherigem Kenntnisstand nicht mit einem erhöhten Risiko für medikamenteninduzierten Kopfschmerz assoziiert sind.
Der Kieler Schmerzspezialist Prof. Dr. Hartmut Göbel betont die Bedeutung dieser Studienergebnisse für die klinische Praxis. Zum ersten Mal sei gezielt untersucht worden, ob eine Migräne bereits in ihrer Vorbotenphase unterbrochen werden könne. Zwar bedürften die Erkenntnisse einer weiterführenden Validierung in prospektiv angelegten Studien, doch schon jetzt weise die Datenlage darauf hin, dass die Phase zwischen Ankündigung und Schmerz möglicherweise therapeutisch nutzbar sei – mit potenziell großem Nutzen für Betroffene, deren Lebensqualität häufig nicht nur durch Schmerzen, sondern auch durch die Vorzeichen der Migräne stark beeinträchtigt ist.
Die Analyse der PRODROME-Daten zu Ubrogepant bringt Bewegung in ein traditionell vernachlässigtes Interventionsfenster der Migränetherapie: die Prodromalphase. Während sich das therapeutische Paradigma bisher fast ausschließlich auf die Phase des akuten Kopfschmerzes konzentrierte, wird nun die Möglichkeit greifbar, schon vor dem eigentlichen Schmerzereignis in den pathophysiologischen Prozess einzugreifen. Damit könnte sich die Rolle der CGRP-Hemmung substanziell erweitern – nicht mehr nur als Schmerzblockade, sondern als präventive Unterbrechung neurovaskulärer Aktivierungsprozesse.
Die Ergebnisse der Nachauswertung deuten darauf hin, dass einzelne Prodromalsymptome differenziert ansprechbar sind und eine frühzeitige Gabe von Ubrogepant die Wahrscheinlichkeit einer vollen Attacke möglicherweise reduziert. Dies eröffnet nicht nur neue Perspektiven für die Betroffenen, sondern auch für die Behandlungskompetenz in der ärztlichen Praxis. Denn bislang war die therapeutische Antwort auf Prodromalsymptome weitgehend spekulativ – ein Zustand, der angesichts der Belastung durch diese Vorboten schwer nachvollziehbar ist.
Allerdings darf der Impulscharakter dieser Ergebnisse nicht mit therapeutischer Reife verwechselt werden. Die Studie war ursprünglich nicht zur Analyse der Prodromalphase konzipiert, und die vorliegenden Zahlen stammen aus einer Subgruppenanalyse. Gleichwohl haben die Resultate das Potenzial, eine wissenschaftliche Neuausrichtung in Gang zu setzen. Sollte sich der Effekt in spezifisch angelegten Studien reproduzieren lassen, hätte dies unmittelbare Konsequenzen für die Praxis: Migränepatienten könnten angewiesen werden, erste Vorzeichen nicht nur zu beobachten, sondern unmittelbar zu therapieren – mit dem Ziel, das Vollbild der Attacke ganz zu verhindern.
Ein weiterer Aspekt betrifft die Entlastung chronisch Betroffener. Da Gepante nach derzeitigem Wissensstand nicht zu medikamenteninduziertem Kopfschmerz führen, bieten sie eine risikoreduzierte Möglichkeit für wiederholte oder prophylaktische Anwendungen. Diese Kombination aus Sicherheit, frühzeitiger Wirkung und potenzieller Symptomkontrolle könnte Ubrogepant – und mittelfristig auch andere CGRP-Hemmer – zum Gamechanger machen, der die herkömmliche Logik der Migränebehandlung infrage stellt. Die Frage ist nun nicht mehr, ob die Prodromalphase behandelbar ist, sondern wie schnell die klinische Forschung diesem Erkenntnissprung folgt.
Tiermedikamente, Humanarznei, EU-Regelwerk
Was Haustieren helfen darf, was verboten ist und wann der Tierarzt Ausnahmen machen darf
Die Abgabe und Anwendung von Arzneimitteln bei Haustieren unterliegt in Deutschland und der EU einer Vielzahl rechtlicher Regelungen, die sowohl den Schutz der Tiere als auch der öffentlichen Gesundheit sicherstellen sollen. Dabei ist nicht nur entscheidend, welches Präparat eingesetzt wird, sondern auch, bei welcher Tierart, in welcher Situation und auf welcher rechtlichen Grundlage. Besonders heikel ist der Einsatz von Humanarzneimitteln bei Tieren – denn auch wenn dies in Notlagen erlaubt sein kann, birgt es rechtliche und pharmakologische Risiken.
Zugelassene Tierarzneimittel sind grundsätzlich die erste Wahl. Die europäische Tierarzneimittelverordnung (EU) 2019/6 hat seit 2022 den Rechtsrahmen grundlegend vereinheitlicht. Sie regelt nicht nur die Zulassung und Kennzeichnung, sondern auch Verschreibungswege, Rückstandshöchstmengen und die Bedingungen für Ausnahmen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das sogenannte „Kaskadenprinzip“: Wenn für eine bestimmte Tierart kein geeignetes Tierarzneimittel zugelassen ist, darf unter strengen Voraussetzungen auf Präparate für andere Tierarten oder auf Humanarzneimittel ausgewichen werden – allerdings ausschließlich durch den Tierarzt.
Die Verordnung unterscheidet zwischen lebensmittelliefernden und nicht lebensmittelliefernden Tieren. Während bei Hunden, Katzen oder Kaninchen in Notfällen mit mehr therapeutischem Spielraum gearbeitet werden kann, ist der Einsatz bei Nutztieren wie Rindern, Schweinen oder Geflügel besonders streng reglementiert. Hier darf keine Substanz verabreicht werden, die nicht explizit für diese Tierart zugelassen oder in der EU-Positivliste aufgeführt ist. Verstöße können nicht nur zu gesundheitlichen Schäden bei Mensch und Tier führen, sondern auch zu empfindlichen Sanktionen – etwa durch das Lebensmittelrecht.
Für Tierhalter bedeutet das: Auch wenn sie auf ein bewährtes Humanpräparat schwören, dürfen sie dies niemals eigenmächtig verabreichen. Apotheken dürfen entsprechende Medikamente nur auf tierärztliche Verschreibung herausgeben – und selbst dann nur im Rahmen der geltenden Regelwerke. Besonders bei chronischen Erkrankungen wie Arthrose, Epilepsie oder Herzproblemen ist der Wunsch nach einfacher Medikation groß. Doch auch hier gilt: Jedes Tier hat einen eigenen Stoffwechsel, und viele Medikamente sind für bestimmte Spezies schlicht unverträglich – etwa Paracetamol für Katzen oder bestimmte Antibiotika für Nagetiere.
Die Regelungen gelten nicht nur national, sondern betreffen auch grenzüberschreitende Fälle. Wer mit einem Tier in den Urlaub reist oder Arzneimittel aus dem Ausland beziehen will, muss ebenfalls auf die jeweilige Zulassung achten. Der Import nicht zugelassener Tierarzneimittel ist in den meisten Fällen illegal, selbst wenn diese in einem anderen EU-Land frei erhältlich sind. Nur Tierärzte dürfen in bestimmten Fällen entsprechende Präparate unter Einhaltung der tierärztlichen Hausapothekenverordnung beziehen und einsetzen.
Problematisch bleibt zudem die Grauzone rund um Onlinebestellungen. Immer wieder tauchen Fälle auf, in denen Tierhalter vermeintlich harmlose Mittel im Internet bestellen, die weder geprüft noch zugelassen sind. Die Risiken reichen von völliger Unwirksamkeit bis hin zu toxischen Nebenwirkungen. Auch Apotheken vor Ort sind daher gefragt, Halter gezielt über erlaubte Therapien und Risiken aufzuklären – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie selbst haftbar gemacht werden können, wenn sie Medikamente entgegen der gesetzlichen Vorgaben abgeben.
Fazit: Der Einsatz von Arzneimitteln bei Tieren ist kein rechtlicher Nebenkriegsschauplatz, sondern hochkomplex reguliert. Humanpräparate sind nur im Rahmen strenger Vorgaben durch Tierärztinnen und Tierärzte einsetzbar. Tierhalter, Apotheken und auch Onlineanbieter stehen gleichermaßen in der Verantwortung, Regelverstöße zu vermeiden. Die EU-Verordnung hat das Regelwerk zwar harmonisiert, lässt aber weiterhin Raum für Interpretation – was Klarheit erfordert und Aufklärung notwendig macht.
Die Frage, welches Arzneimittel bei Haustieren erlaubt ist, führt in einen Dschungel aus Verordnungen, Ausnahmeregelungen und therapeutischen Grauzonen – und dieser Dschungel wird dichter, nicht lichter. Während der Wunsch vieler Halter nachvollziehbar ist, ihren Tieren im Krankheitsfall schnell und effektiv zu helfen, zeigt sich immer wieder: Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht. Denn die unsichtbare Grenze zwischen humaner Fürsorge und medizinischer Verantwortung wird regelmäßig überschritten – und das nicht nur im Wohnzimmer, sondern auch im Apothekenalltag.
Dass Tierarzneimittel rechtlich strenger behandelt werden als viele Humanpräparate, hat seinen Grund. Tiere reagieren nicht nur anders auf Wirkstoffe, sie stehen auch in einem völlig anderen regulatorischen Kontext. Wer etwa glaubt, eine Katze könne mit denselben Medikamenten behandelt werden wie ein Kleinkind, unterliegt einem gefährlichen Irrtum – mit potenziell tödlichem Ausgang. Das Kaskadenprinzip ist deshalb kein bürokratischer Selbstzweck, sondern eine Schutzmaßnahme, die Tierwohl, Arzneimittelsicherheit und Verbraucherschutz gleichermaßen berücksichtigt.
Doch gerade diese Regelung steht auch exemplarisch für die juristische Komplexität in der Tiermedizin. Tierärzte stehen oft unter Druck: zwischen dem Wunsch der Halter nach günstiger, schneller Hilfe und der Pflicht zur rechtssicheren Entscheidung. Auch Apotheken geraten dabei immer häufiger in eine Rolle, die sie weder tragen noch verantworten können. Die Gefahr, durch Unwissenheit oder Gefälligkeit in haftungsrechtliche Schwierigkeiten zu geraten, ist real – zumal die Kontrollinstanzen in der Praxis oft lückenhaft sind.
Hinzu kommt: Der Wildwuchs im Onlinehandel untergräbt zunehmend jede klare Regel. Was digital verfügbar ist, wird auch bestellt – unabhängig davon, ob es legal oder medizinisch sinnvoll ist. Das Vertrauen in Tierärzte und Apotheken wird so ausgehöhlt, während gleichzeitig die Erwartung steigt, auch exotischere Tierarten ohne Rücksicht auf regulatorische Barrieren therapieren zu können. Dabei ist gerade hier höchste Sorgfalt geboten: Papageien, Reptilien oder Zwergkaninchen reagieren oft besonders empfindlich – und viele Substanzen sind schlichtweg toxisch.
Die Politik hat mit der EU-Verordnung 2019/6 einen wichtigen Schritt gemacht, doch sie bleibt auf halber Strecke stehen. Harmonisierung ersetzt keine Aufklärung. Es braucht endlich verständliche Leitlinien für Tierhalter, verbindliche Schulungen für Apothekenteams und vor allem eine stärkere Verknüpfung zwischen Human- und Veterinärmedizin – nicht nur auf dem Papier, sondern im Alltag. Denn Arzneimittelsicherheit ist keine Frage der Tierart, sondern der Verantwortung.
Wer sich dieser Verantwortung entzieht – ob aus Unwissen, Bequemlichkeit oder Profitinteresse – gefährdet nicht nur Tiere, sondern auch das Vertrauen in eine sorgfältige und rechtskonforme Arzneimittelversorgung. Es ist Zeit, dass Recht, Ethik und Therapieanspruch wieder in Einklang gebracht werden. Nicht nur im Sinne der Tiere, sondern auch ihrer Halterinnen und Halter – und der Apotheken, die zwischen allen Stühlen sitzen.
Vitamin B3, Darmmikrobiom, Long Covid
Hoffnung aus Kiel: Hochdosiertes Nicotinamid verbessert Leistungsfähigkeit und schützt vor Langzeitfolgen
Eine groß angelegte klinische Studie aus Kiel liefert neue Hinweise darauf, dass Vitamin B3 in Form von Nicotinamid die Genesung nach einer SARS-CoV-2-Infektion wesentlich beschleunigen kann. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen nicht nur die Auswirkungen auf den Energiehaushalt erkrankter Personen, sondern auch auf das Darmmikrobiom – einen Bereich, der zunehmend in den Fokus moderner Infektionsforschung rückt. Die Erkenntnisse stammen aus der COVit-2-Studie des Exzellenzclusters »Precision Medicine in Chronic Inflammation« (PMI) am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel. Die Studie mit 900 Teilnehmenden wurde randomisiert, doppelblind und placebokontrolliert durchgeführt und erschien nun im renommierten Fachjournal »Nature Metabolism«.
Ziel war es, den Effekt einer kombinierten Gabe von herkömmlichem Nicotinamid und einer neu entwickelten Tablettenform mit kontrollierter Freisetzung im unteren Dünndarm und Dickdarm – CICR-NAM – zu untersuchen. Vitamin B3 ist ein essenzieller Vorläufer für NAD+ (Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid), das eine Schlüsselrolle im zellulären Energiestoffwechsel spielt. SARS-CoV-2-Infektionen bringen den Stoffwechsel aus dem Gleichgewicht, verursachen NAD+-Mangel und beeinflussen die Tryptophanverwertung. Gleichzeitig beeinträchtigt das Virus das Darmmikrobiom, reduziert nützliche Bakterienstämme und begünstigt dysbiotische Entwicklungen, die nicht nur die akute Symptomatik, sondern auch die langfristige Rekonvaleszenz betreffen können.
Die kombinierte Gabe von Vitamin B3 hatte insbesondere bei Personen mit erhöhtem Risiko für schwere Verläufe einen signifikanten Effekt. Bereits zwei Wochen nach Therapiebeginn zeigten 57,6 Prozent der Nicotinamid-Gruppe eine weitgehende Erholung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit, verglichen mit nur 42,6 Prozent in der Placebogruppe. Das betraf vor allem ältere Patientinnen und Patienten, Raucher sowie Menschen mit chronischen Vorerkrankungen. Die Erhebung erfolgte über regelmäßige telefonische Befragungen und standardisierte Stuhlproben, anhand derer sich auch die Zusammensetzung des Darmmikrobioms präzise analysieren ließ.
Interessant ist, dass zwei sekundäre Endpunkte – die Reduktion von Husten und die Auflösung der Fatigue – in der Hauptanalyse nicht signifikant erreicht wurden. Dennoch sprechen die Ergebnisse eine klare Sprache: Die Nicotinamid-Gabe führte zu einer beschleunigten Normalisierung des gestörten Mikrobioms, wie sie bei placebo-behandelten Personen selbst nach zwei Wochen nicht beobachtet wurde. Der sogenannte Notfallstoffwechsel des Mikrobioms – eine Phase erhöhter mikrobieller Aktivität zur Regeneration nach Infektionsbelastung – trat bei der Interventionsgruppe nicht mehr in Erscheinung. Dies legt nahe, dass die gezielte Versorgung des Dickdarms mit Nicotinamid über CICR-NAM entscheidende regulatorische Prozesse im intestinalen Mikrobiom frühzeitig modulieren kann.
Ein weiterer Befund betrifft die Langzeitfolgen: Sechs Monate nach der Infektion litten Personen, die in der akuten Phase erfolgreich mit Nicotinamid behandelt worden waren, signifikant seltener an chronischer Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten oder anderen typischen Beschwerden des sogenannten Long Covid. Der therapeutische Effekt scheint also über die akute Krankheitsphase hinaus zu wirken. Die Studienleitung hebt hervor, dass diese Ergebnisse vor allem für künftige Versorgungsstrategien und Präventionsansätze relevant sein könnten, insbesondere in Bezug auf vulnerable Bevölkerungsgruppen.
Die Entwicklung der CICR-NAM-Formulierung basiert auf über zehn Jahren Vorarbeit am Kieler Standort. Frühere Untersuchungen hatten bereits gezeigt, dass ein Mangel an Nicotinamid entzündliche Prozesse im Darm verstärken kann. Aufbauend auf dieser Grundlage plant der Exzellenzcluster nun weitere Studien, die auch Long-Covid-Patientinnen und -Patienten sowie Menschen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen in den Fokus nehmen sollen. Geplant ist darüber hinaus die differenzierte Untersuchung der Applikationsformen – herkömmlich versus kontrollierte Freisetzung – um therapeutische Strategien gezielt weiterzuentwickeln. Schon eine frühere Pilotstudie (COVit-1) hatte Hinweise darauf geliefert, dass selbst die alleinige Gabe von Standard-Nicotinamid zu klinisch messbaren Verbesserungen führt.
Insgesamt liefert die COVit-2-Studie eine starke Basis für neue Wege in der Rekonvaleszenzbegleitung nach Covid-19. Vitamin B3 könnte sich – in differenzierter, gezielter Verabreichungsform – als ein therapeutischer Baustein erweisen, um nicht nur die körperliche Genesung zu fördern, sondern auch das Risiko für langfristige Beeinträchtigungen zu senken. Noch sind weitere klinische Untersuchungen nötig, doch die Ergebnisse aus Kiel markieren einen bedeutenden Schritt in Richtung personalisierter, darmzentrierter Covid-19-Nachsorge.
Die Ergebnisse der COVit-2-Studie aus Kiel setzen ein deutliches Signal: Während vielerorts über Medikamente gegen akute Symptome oder Impfstoffe diskutiert wird, tritt hier eine Perspektive in den Vordergrund, die bislang zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat – die gezielte Unterstützung der Regeneration nach einer Infektion. Dass Vitamin B3 in Form von Nicotinamid in der Lage ist, gleich zwei kritische Prozesse positiv zu beeinflussen – den zellulären Energiestoffwechsel und die Balance des Darmmikrobioms – ist mehr als ein biochemisches Detail. Es eröffnet neue therapeutische Denkräume, die sowohl für die akute Versorgung als auch für die Langzeitnachsorge von Infektionen wie Covid-19 enorme Relevanz besitzen.
Die kontrollierte Freisetzung im Darmsegment, das durch Covid-Infektionen nachweislich geschädigt wird, ist dabei mehr als pharmakologisches Raffinement. Sie zeigt, wie spezifische Applikationswege gezielt eingesetzt werden können, um biologische Systeme in ihrer Regeneration zu unterstützen. Das Mikrobiom war lange ein blinder Fleck in der Infektiologie. Nun beginnt man zu verstehen, dass seine Modulation ein zentraler Schlüssel für Resilienz und Rückgewinnung körperlicher Leistung sein könnte.
Die medizinische Logik dieser Erkenntnisse steht im Kontrast zur politischen Praxis der Pandemiepolitik. Während Milliarden in Impfstoffbeschaffung und Testlogistik geflossen sind, fristet die systematische Nachsorge – und insbesondere die Prävention von Long Covid – ein Schattendasein. Dass ausgerechnet ein Vitamin, das lange als banaler Mikronährstoff galt, nun eine Schlüsselrolle in der postinfektiösen Versorgung einnehmen könnte, wirft auch ein Schlaglicht auf die Versäumnisse in der klinischen Forschungspolitik der vergangenen Jahre.
Natürlich ist Vorsicht geboten. Die Ergebnisse aus Kiel sind ermutigend, aber nicht endgültig. Es bedarf größerer, populationsübergreifender Studien, um die therapeutische Relevanz von Nicotinamid in der breiten Versorgung zu bewerten. Auch die Frage, inwieweit die kombinierte Freisetzung Vorteile gegenüber der herkömmlichen Gabe bringt, ist offen. Doch die Richtung stimmt: Es geht um Präzision, um Regeneration, um das Mikrobiom – und damit um einen neuen systemischen Blick auf Infektionskrankheiten.
Die COVit-2-Studie markiert keinen therapeutischen Durchbruch im klassischen Sinn, wohl aber einen Paradigmenwechsel. Statt das Virus nur zu bekämpfen, beginnt man zu verstehen, was es im Körper anrichtet – und wie man diese Folgen gezielt lindern kann. Das macht diese Forschung nicht nur relevant, sondern auch exemplarisch für einen notwendigen Wandel in der klinischen Praxis und im gesundheitsökonomischen Denken.
Ubrogepant lindert Migränevorboten, bekämpft Lichtempfindlichkeit und verbessert Konzentration
Neue Studiendaten zeigen erstmals eine effektive Behandlung der Prodromalphase bei Migränepatienten durch CGRP-Blockade
Migräne gilt als eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen weltweit, doch viele ihrer Symptome beginnen lange, bevor der eigentliche Kopfschmerz einsetzt. Diese Frühzeichen, oft auch als Prodromalsymptome bezeichnet, beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen erheblich, werden aber therapeutisch bisher kaum adressiert. Dazu gehören unter anderem Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Nackenschmerzen, Benommenheit, Müdigkeit, Übelkeit oder kognitive Einschränkungen wie Konzentrationsprobleme. Nun rückt ein Wirkstoff in den Fokus, der diese Frühphase erstmals gezielt beeinflussen könnte: Ubrogepant.
In einer jüngst veröffentlichten Phase-III-Studie mit dem Titel PRODROME wurde erstmals untersucht, ob Ubrogepant auch bei beginnenden Migränesymptomen wirksam sein kann. Der oral verfügbare CGRP-Rezeptor-Antagonist wurde bisher zur akuten Behandlung der eigentlichen Migräneattacke eingesetzt. Die neue Studie geht einen Schritt weiter: Sie testet das Medikament im sensiblen Prodromalstadium – also in jener Phase, in der sich eine Migräne bereits ankündigt, aber noch kein Schmerz auftritt.
An der randomisierten, doppelblinden und placebokontrollierten Cross-Over-Studie nahmen 438 Patientinnen und Patienten im Alter von 18 bis 75 Jahren teil, die seit mindestens einem Jahr regelmäßig unter Migräne litten. Die Teilnehmenden erhielten bei Auftreten früher Symptome entweder 100 mg Ubrogepant oder ein Placebo. Bei einem weiteren Migräneanflug mehr als sieben Tage später wurde die Medikation gewechselt, sodass jede Person beide Therapien durchlief.
Die Ergebnisse zeigen eindrucksvoll, dass Ubrogepant in der Frühphase der Migräne signifikante Linderung verschafft. Bereits eine Stunde nach Einnahme berichteten die Probanden von einer gesteigerten Konzentrationsfähigkeit. Nach zwei Stunden zeigte sich eine deutliche Reduktion der Lichtempfindlichkeit: 19,5 Prozent der Ubrogepant-Gruppe waren beschwerdefrei, gegenüber nur 12,5 Prozent in der Placebogruppe. Weitere zwei Stunden später waren Müdigkeit (27,3 gegenüber 16,8 Prozent) und Nackenschmerzen (28,9 gegenüber 15,9 Prozent) deutlich verringert. Auch Geräuschempfindlichkeit nahm im Zeitraum zwischen vier und 24 Stunden signifikant ab: 50,7 Prozent der Ubrogepant-Gruppe blieben symptomfrei, verglichen mit 35,8 Prozent unter Placebo. Selbst Benommenheit, ein oft schwer greifbares Prodromalsymptom, ging zurück (88,5 versus 82,3 Prozent).
Die Resultate markieren einen entscheidenden Fortschritt in der Akuttherapie der Migräne. Bislang zielten Medikamente vor allem auf die Schmerzphase oder wurden prophylaktisch eingesetzt. Dass nun ein Präparat nachweislich in der Prodromalphase Wirkung entfaltet, eröffnet neue klinische Optionen. Der besondere Vorteil liegt dabei in der frühzeitigen Einnahme: Patientinnen und Patienten können bereits bei den ersten Vorzeichen aktiv gegensteuern und müssen nicht auf den Einsetzen der Schmerzen warten, um therapeutisch zu handeln.
Ubrogepant ist ein niedermolekularer Antagonist des Calcitonin-Gene-Related-Peptide-Rezeptors (CGRP-R). CGRP ist ein neuropeptider Stoff, der maßgeblich an der Schmerzweiterleitung und der Gefäßdilatation beteiligt ist – zwei Prozesse, die bei Migräne eine zentrale Rolle spielen. Indem Ubrogepant den Rezeptor blockiert, unterbricht es die Reizweiterleitung und wirkt direkt im neurovaskulären Geschehen, ohne die für Triptane typischen kardiovaskulären Risiken mit sich zu bringen.
Der Arzneistoff wurde unter dem Handelsnamen Ubrelvy® bereits 2019 in den USA zugelassen – allerdings nur für die Behandlung der akuten Migräneattacke mit oder ohne Aura. In der EU ist Ubrogepant derzeit noch nicht zugelassen. In Deutschland stehen derzeit mit Atogepant (Aquipta®) ein CGRP-Antagonist zur Prophylaxe zur Verfügung, während Rimegepant (Vydura®) sowohl prophylaktisch als auch zur Akutbehandlung verwendet werden darf – derzeit jedoch noch ohne Markteinführung in Deutschland.
Die nun veröffentlichten Ergebnisse aus »Nature Medicine« könnten die Zulassungsdebatte für Ubrogepant auch in Europa neu entfachen. Sie belegen nicht nur die grundsätzliche Wirksamkeit in der Frühphase, sondern lassen auch auf eine bessere Kontrolle des gesamten Migräneverlaufs hoffen. Betroffene könnten durch frühzeitiges Eingreifen womöglich intensivere Schmerzphasen vermeiden oder zumindest deren Dauer und Ausprägung reduzieren.
Die Studie betont jedoch selbst, dass es sich um erste belastbare Hinweise handelt. Weitere Untersuchungen seien notwendig, um die genaue Wirksamkeit, Dosierung und Sicherheit der Anwendung im Prodromalstadium zu überprüfen. Insbesondere der Langzeiteffekt sowie die mögliche Interaktion mit anderen Akutmedikamenten müssen künftig näher betrachtet werden.
Dennoch markiert diese Forschung ein neues Kapitel in der Behandlung der Migräne – mit potenziell großer Relevanz für Millionen von Patientinnen und Patienten, deren Alltag von unvorhersehbaren Attacken und subtilen Vorboten geprägt ist. Der gezielte Einsatz von CGRP-Antagonisten wie Ubrogepant könnte helfen, die Kontrolle über diese neurologische Erkrankung deutlich zu verbessern und erstmals auch jenen Symptomen therapeutisch zu begegnen, die bislang kaum beachtet wurden.
Der medizinische Fortschritt ist manchmal eine Frage des richtigen Timings – und genau darin liegt die Sprengkraft der jüngsten Studie zu Ubrogepant. Was bislang kaum mehr als ein diffuses Gefühl vor einer Attacke war, wird nun zum therapeutischen Ankerpunkt: Lichtempfindlichkeit, Nackenschmerzen, kognitive Schwächen und Benommenheit sind keine bloßen Begleiterscheinungen, sondern eigenständige Krankheitsphasen, die frühzeitig pharmakologisch adressiert werden können. Die Studie rückt damit ein fundamentales Missverständnis der Migränetherapie zurecht: Dass der Schmerz das Hauptsymptom sei und die Therapie dort beginnen müsse.
Tatsächlich jedoch beginnt das Leiden viel früher – und genau hier setzt Ubrogepant an. Der Wirkstoff bricht mit der bisherigen Logik, Migräne nur dann zu behandeln, wenn sie bereits spürbar ist. Er verschiebt die therapeutische Schwelle nach vorn, in ein Zeitfenster, das bislang medikamentös unerschlossen blieb. Damit wird nicht nur die Versorgungslogik in Frage gestellt, sondern auch der gesamte Behandlungsalgorithmus. Die Daten belegen eindrucksvoll, dass die Wirksamkeit von Ubrogepant bereits in der ersten Stunde nach Einnahme einsetzt – und zwar bevor der erste Schmerzimpuls das Bewusstsein erreicht. Diese Umkehr der Kausalität – erst handeln, dann verhindern – ist mehr als ein pharmakologisches Detail, sie ist ein Paradigmenwechsel.
Dass Europa diesem Ansatz noch zurückhaltend gegenübersteht, ist symptomatisch für die regulatorische Trägheit im Umgang mit innovativen Migränetherapien. Während andere Vertreter der CGRP-Klasse hierzulande bereits zugelassen sind, fristet Ubrogepant in Europa ein Schattendasein. Dabei wäre gerade diese neue Einsatzform im Prodromalstadium ein wertvoller klinischer Hebel, um Migräneanfälle nicht nur zu verkürzen, sondern möglicherweise ganz zu verhindern. Es ist eine therapeutische Strategie, die dem Patienten nicht nur Schmerz nimmt, sondern Kontrolle zurückgibt – über Körper, Alltag und Lebensqualität.
Das Beispiel Ubrogepant zeigt: Wir müssen lernen, Krankheit nicht nur am Höhepunkt zu therapieren, sondern ihre Anfänge ernst zu nehmen. Migräne beginnt nicht erst im Schmerz – und ihre Behandlung darf dort nicht enden. Wer früh interveniert, heilt nicht nur schneller, sondern auch tiefer. Ubrogepant hat das Potenzial, aus einer reaktiven eine präemptive Medizin zu machen. Diese Chance sollte die europäische Zulassungspraxis nicht ungenutzt lassen.
Von Engin Günder, Fachjournalist
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