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GERICHTSURTEIL
In seinem Urteil vom 16.02.2011 (4 O 133/09) hat sich das Landgericht (LG) Heidelberg mit der Frage befasst, ob ein „extremer Angstpatient" in die Extraktion von mehreren Zähnen unter Vollnarkose eingewilligt hatte und diese Behandlung indiziert war.
In dem konkreten Fall wurde ein Patient von Seiten seines Hauszahnarztes zur konservierend chirurgischen Sanierung in Vollnarkose an eine Universitätsklinik überwiesen. In der chirurgischen Abteilung wurden im Oktober 2008 im Rahmen einer Intubationsnarkose u. a. die Zähne 43, 42, 31, 16, 14, 11, 21 und 26 extrahiert. Im Nachhinein behauptete die Patientin, dass darüber hinaus auch die Zähne 44, 32, 24 und 28 gezogen worden seien.
Nach der durchgeführten Behandlung unter Vollnarkose gab die Patientin an, dass alle zwölf gezogenen Zähne erhaltungswürdig und vital gewesen seien, sodass die Extraktion grob fehlerhaft erfolgt sei, weshalb sie nun in erheblichem Umfang Zahnersatz benötige. Sie habe nie in eine Extraktion eingewilligt, sondern sei die ganze Zeit von einer konservierend- chirurgischen Sanierung, wie es auf dem Überweisungsträger gestanden habe, ausgegangen. Nach dem Aufwachen aus der Narkose habe sie völlig überraschend die Extraktion der zwölf Zähne festgestellt und einen schweren Schock erlitten. Insgesamt wurde ein Schmerzensgeldanspruch in Höhe von mindestens 20.000,00 Euro von Seiten der Patientin geltend gemacht und zusätzlich verlangt, alle materiellen und immateriellen Schäden aufgrund der durchgeführten Behandlung nebst den entstandenen außergerichtlichen Anwaltskosten zu ersetzen.
Die Entscheidung:
Vor dem LG Heidelberg unterlag die Patientin überwiegend. Nach Beweiserhebung wurde ihr nur für eine nichtindizierte Extraktion des Zahnes 44 ein Schmerzensgeld und Schadensersatz zugebilligt. Die übrigen Extraktionen erfolgten nach Auffassung der Heidelberger Richter lege artis, wobei die Extraktion der Zähne darüber hinaus auch nicht wegen mangelnder Aufklärung und damit nicht wirksam erteilter Einwilligung rechtswidrig gewesen sei. Im Arzthaftungsprozess trage der Patient die Beweislast für die behaupteten Haftungsfehler, also eine Abweichung der ärztlichen Behandlung vom medizinischen Standard. Auch den Beweis für die ursächliche Verknüpfung zwischen Behandlungsfehler und dem behaupteten Schaden müsse der Patient führen. Diesen Beweis habe die Patientin nur teilweise führen können. Der hinzugezogene Sachverständige habe ausgeführt, dass bis auf die nichtindizierte Extraktion des Zahnes 44 keine Behandlungsfehler der Beklagten hätten festgestellt werden können. Die Indikation zur Extraktion der Zähne sei bis auf den Zahn 44 medizinisch nachvollziehbar gewesen.
Zahnarztphobie - möglichst keine Nachbehandlungen
Bei der Überprüfung der von den Beklagten intraoperativ gestellten Indikation zur Extraktion der Zähne müsse nach Auffassung des Gutachters unbedingt die Zahnarztphobie der Klägerin, welche eine reguläre zahnärztliche Behandlung praktisch ausgeschlossen habe, mit berücksichtigt werden. Die Einschätzung der Erhaltungsfähigkeit müsse in solchen Fällen daher auch unter dem Gesichtspunkt gefällt werden, ob der Versuch der Zahnerhaltung eine angemessene Prognose habe und eine adäquate Nachsorge gewährleistet sei. Es könne durchaus sein, dass einzelne Zähne per se grundsätzlich erhaltungsfähig seien, jedoch unter dem individuell bei einem Patienten vorliegenden Bedingungen keine Indikation für den Erhalt gestellt werden könne. Bei Patienten mit Zahnarztphobien sei das Ziel jeder Sanierung unter Vollnarkose, dass möglichst keine Nachbehandlungen erforderlich seien, die eine erneute Narkose bedingen würden. Behandlungen, die eine unsichere Prognose hätten, seien daher bei solchen Patienten kontraindiziert.
Aufgrund der von Seiten des Gerichtes als glaubhaft angesehenen Zeugenangaben und den vorliegenden Behandlungsunterlagen konnte der Sachverständige darüber hinaus auch die Indikation zur Extraktion der Zähne nicht als fehlerhaft bewerten. Präoperativ habe bei der Patientin ein für ihr Alter weit überdurchschnittlich schlechter Zahnstatus vorgelegen. Es sei bereits ein Knochenabbau des Alveoloarknochens erkennbar gewesen, wobei die Kiefergelenkköpfe beidseits massive Abflachungen gezeigt hätten und an den Zähnen Karies bestanden habe. Auch der überweisende Hauszahnarzt habe zudem geschildert, dass vor der Überweisung eine Zahnbehandlung dringend erforderlich gewesen sei, wobei fast alle Zähne kariös gewesen wären. Bei manchen Zähnen hätte eine „normale Füllung" nicht mehr ausgereicht, sondern es seien Überkronungen erforderlich gewesen, wobei auch einige Zähne eher für nichterhaltungsfähig eingeschätzt wurden. Die endgültige Entscheidung zur Extraktion habe er aber den Ärzten der Universitätsklinik überlassen wollen.
Seitens des LG Heidelberg wurden der Patientin keine weitergehenden Ansprüche aufgrund vorgeblich fehlender Einwilligung in die (indizierte) Extraktion der Zähne zugebilligt. Die Patientin sei ausreichend darüber aufgeklärt worden und habe darin eingewilligt, dass nach intraoperativem Entscheid des behandelnden Zahnarztes Zähne bei der Behandlung gezogen werden können. Die diesbezüglichen Zeugenaussagen der behandelnden Zahnärzte seien gestützt auf handschriftlichen Eintragungen in den Behandlungsunterlagen glaubhaft. Für nicht glaubhaft erachtete das Gericht aber die Angaben der Patientin, dass mit ihr nie über das Ziehen von Zähnen gesprochen worden sei.
RA Michael Lennartz
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