• 30.04.2014 – Pflicht zum Nachweis von Deutschkenntnissen bei Ehegattennachzug aus Drittstaat unionsrechtswidrig

    SICHERHEIT – Steuer & Recht Nach Ansicht von Generalanwalt Paolo Mengozzi verstößt es gegen das Unionsrecht, dass in Deutschland Drittstaatsangehörigen ein Visum zum Zwe ...

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Steuer & Recht

Pflicht zum Nachweis von Deutschkenntnissen bei Ehegattennachzug aus Drittstaat unionsrechtswidrig

 

Nach Ansicht von Generalanwalt Paolo Mengozzi verstößt es gegen das Unionsrecht, dass in Deutschland Drittstaatsangehörigen ein Visum zum Zweck des Ehegattennachzugs nur erteilt wird, wenn sie Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachweisen können. Das 2007 eingeführte Spracherfordernis ist weder mit der Stillhalteklausel des Assoziierungsabkommens mit der Türkei noch mit der Richtlinie über die Familienzusammenführung vereinbar. Seit 2007 macht Deutschland die Erteilung eines Visums für den Ehegattennachzug von Drittstaatsangehörigen grundsätzlich von der Bedingung abhängig, dass sich der nachzugswillige Ehegatte zumindest auf einfache Art, auch schriftlich, in deutscher Sprache verständigen kann1. Diese neue Bedingung soll die Integration von Neuankömmlingen in Deutschland erleichtern und der Bekämpfung von Zwangsehen dienen.

Frau Dogan, die türkische Staatsangehörige ist und in der Türkei lebt, möchte seit vier Jahren zu ihrem Ehemann nach Deutschland ziehen. Ihr Ehemann, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist, lebt seit 1998 in Deutschland, wo er eine GmbH als deren Mehrheitsgesellschafter leitet und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt. Vor ihrer standesamtlichen Eheschließung im Jahr 2007 waren Herr und Frau Dogan bereits eine religiöse Ehe vor einem Imam eingegangen, aus der zwischen 1988 und 1993 vier Kinder hervorgegangen sind. Im Januar 2012 lehnte die Deutsche Botschaft in Ankara erneut die Erteilung eines Visums für den Ehegattennachzug an Frau Dogan ab, da sie Analphabetin sei und damit nicht über die erforderlichen Sprachkenntnisse verfüge.

Frau Dogan erhob hiergegen eine Klage beim Verwaltungsgericht Berlin. Dieses hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob das 2007 in Deutschland eingeführte Spracherfordernis mit dem Unionsrecht und insbesondere mit der sog. Stillhalteklausel vereinbar ist, die seit Anfang der 1970er Jahre im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit der Türkei gilt2. Diese Klausel verbietet die Einführung neuer Beschränkungen3 der Niederlassungsfreiheit.

In seinen Schlussanträgen verneint Generalanwalt Paolo Mengozzi diese Frage. Nach Auffassung des Generalanwalts untersagt es die Stillhalteklausel, türkische Staatsangehörige, die wie Herr Dogan im Rahmen des Assoziierungsabkommens von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht haben, neuen Maßnahmen zu unterwerfen, die wie das hier in Rede stehende Spracherfordernis bezwecken oder bewirken, dass ihren Ehegatten die Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat zum Zweck des Ehegattennachzugs erschwert wird.

Besteht nämlich für einen türkischen Staatsangehörigen keine konkrete Aussicht auf Familienzusammenführung in dem Mitgliedstaat, in dem er niedergelassen ist (oder sich als Selbständiger niederlassen will), so ist dies geeignet, für ihn die Ausübung der vom Assoziierungsabkommen umfassten Niederlassungsfreiheit zu behindern oder zumindest weniger attraktiv zu machen. Ohne diese Aussicht kann ein türkischer Staatsangehöriger entweder - wenn die familiäre Bindung bereits besteht - davon abgeschreckt werden, sich im Unionsgebiet niederzulassen, oder sich - wenn diese Bindung erst nach seiner Ausreise geknüpft worden ist - veranlasst sehen, seine Tätigkeit zu unterbrechen und das Unionsgebiet zu verlassen. In beiden Fällen müsste er zwischen seiner beruflichen Tätigkeit und der Erhaltung der Einheit seiner Familie wählen.

Hinsichtlich der Frage, ob das Spracherfordernis mit der Bekämpfung von Zwangsehen gerechtfertigt werden kann, vertritt der Generalanwalt die Meinung, dass dieses Erfordernis jedenfalls unverhältnismäßig ist. Es kann nämlich die Familienzusammenführung in dem betreffenden Mitgliedstaat unbegrenzt lange hinausschieben, und es gilt vorbehaltlich ganz bestimmter abschließend festgelegter Ausnahmen4 unabhängig von einer Würdigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls.

Der Generalanwalt weist im Übrigen das Vorbringen der deutschen Regierung zurück, dass es für die Verhinderung der sozialen Ausgrenzung der Opfer von Zwangsehen weniger wirksam wäre, den nachzugswilligen Ehegatten erst nach seinem Eintreffen in Deutschland zur Teilnahme an Integrations- und Sprachkursen zu verpflichten, als ihm den vorherigen Erwerb von Sprachkenntnissen aufzuerlegen. Der Generalanwalt betont, dass die Verpflichtung zur Teilnahme an solchen Kursen die betreffenden Personen dazu veranlasst, aus ihrem familiären Umfeld herauszutreten, wodurch ihr Kontakt mit der deutschen Gesellschaft erleichtert wird. Sollten Familienangehörige Zwang auf sie ausüben, so wären diese dann ihrerseits gezwungen, einen solchen Kontakt zuzulassen, der ohne eine solche Verpflichtung trotz vorhandener Grundkenntnisse der deutschen Sprache behindert werden könnte. Außerdem können regelmäßig unterhaltene Beziehungen zu für die Durchführung solcher Kurse verantwortlichen Einrichtungen und Personen dazu beitragen, günstige Voraussetzungen für ein spontanes Hilfeersuchen der Opfer zu schaffen und die Feststellung von Situationen, die ein Eingreifen erfordern, und deren Anzeige an die zuständigen Behörden erleichtern.

Der Generalanwalt kommt somit zu dem Ergebnis, dass Frau Dogan angesichts der Einführung einer neuen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, die ihr Ehegatte genießt, der Anwendung des deutschen Spracherfordernisses in ihrem Fall entgegentreten kann.

Das Verwaltungsgericht Berlin möchte ferner wissen, ob auch die Richtlinie über die Familienzusammenführung5 - der zufolge die Mitgliedstaaten von Drittstaatsangehörigen, die in den Genuss einer Familienzusammenführung gelangen könnten, verlangen dürfen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen - dem entgegensteht, dass das Recht des Ehegatten eines sich bereits in Deutschland rechtmäßig aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, seinerseits nach Deutschland einzureisen, vom Nachweis von Grundkenntnissen der deutschen Sprache abhängig gemacht wird.

Angesichts seiner vorgeschlagenen Antwort auf die erste Frage des Verwaltungsgerichts zur Stillhalteklausel hält der Generalanwalt eine Beantwortung dieser allgemeineren Frage für nicht mehr erforderlich. Für den Fall, dass sich der Gerichtshof seiner Auffassung nicht anschließen sollte, schlägt Herr Mengozzi jedoch vor, auf die zweite Frage zu antworten, dass es dieser Richtlinie zuwiderläuft, die Erteilung eines Visums zum Zweck der Familienzusammenführung wie im vorliegenden Fall von dem Nachweis abhängig zu machen, dass der nachzugswillige Ehegatte über Grundkenntnisse der Sprache des betreffenden Mitgliedstaats verfügt, ohne dass die Möglichkeit einer Gewährung von Befreiungen aufgrund einer Einzelfallprüfung besteht. Für diese Einzelfallprüfung sind die Interessen minderjähriger Kinder sowie alle relevanten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Damit ist auch der Frage Beachtung zu schenken, ob in dem Wohnstaat des nachzugswilligen Ehegatten Unterricht und unterstützendes Material, wie sie für den Erwerb der erforderlichen Sprachkenntnisse notwendig sind, verfügbar und (insbesondere unter Kostengesichtspunkten) auch zugänglich sind. Ebenso sind etwaige, auch zeitweilige Schwierigkeiten zu berücksichtigen, die (wie Alter, Analphabetismus, Behinderung und Bildungsgrad) mit dem Gesundheitszustand oder der persönlichen Situation des nachzugswilligen Ehegatten zusammenhängen.

Hinweis:
Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.

Fußnoten
1§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes. Diese Anforderung wurde eingeführt durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007.
2Diese Klausel ist enthalten in dem am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. 1972, L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokoll über die Maßnahmen, die während der Übergangsphase der Assoziation zu treffen sind, die durch das Abkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei gegründet wurde, das zwischen der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 164, 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
3Im Verhältnis zu den Beschränkungen, die bereits bei Inkrafttreten dieser Klausel für den jeweiligen Mitgliedstaat bestanden.
4So kann ein Visum insbesondere dann erteilt werden, wenn der die Familienzusammenführung begehrende Ehegatte wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen.
5Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12).

EuGH, Rechtssache C-138/13 vom 30.04.2014

 

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