• 23.06.2023 – Vorrang der Arzneimittelsicherheit auch bei regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen?

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Steuer & Recht |

Vorrang der Arzneimittelsicherheit auch bei regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen?

 

Haben Versicherte bei regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten Anspruch auf Arzneimittel, obwohl sie im Zulassungsverfahren aufgrund einer negativen Bewertung durch die für Arzneimittelsicherheit zuständige Behörde für die betreffende Indikation keine Zulassung erhalten haben? Macht es einen Unterschied, ob die Zulassungserweiterung aufgrund einer aussagekräftigen Studienlage abgelehnt wurde, oder weil die vorgelegten Daten wegen methodischer Probleme der Datenauswahl und Datenanalyse den Nutzen nicht bestätigen konnten? Und unter welchen Voraussetzungen können nach der behördlichen Ablehnung gewonnene neue wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden?
Auf diese Grundsatzfragen wird der 1. Senat des Bundessozialgerichts vor dem Hintergrund eines Verfahrens Antworten geben, der am 29. Juni 2023 ab 15 Uhr im Elisabeth-Selbert-Saal verhandelt und entschieden wird (Aktenzeichen B 1 KR 35/21 R).

Der 2004 geborene Kläger leidet an einer genetisch bedingten, fortschreitenden und typischerweise im frühen Erwachsenenalter tödlichen Erkrankung (Duchenne-Muskeldystrophie infolge Nonsense-Mutation des Dystrophin-Gens). Er ist seit 2015 gehunfähig und begehrt von seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für das Arzneimittel Translarna. Das Arzneimittel ist in der Europäischen Union für die Behandlung der beim Kläger bestehenden Erkrankung zugelassen, jedoch nur für gehfähigen Patienten. Anträge des Herstellers des Arzneimittels bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur im Juni und nochmals im Oktober 2019 führten nicht zur Erweiterung der Arzneimittelzulassung auf nicht mehr gehfähige Patienten. Das Sozialgericht hat die Klage auf Versorgung mit Translarna abgewiesen. Das Landessozialgericht hat die Krankenkasse des Klägers verurteilt, diesen mit Translarna zu versorgen. Es bestehe eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Verlauf der Erkrankung. Dies reiche bei regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten aus, den Anspruch zu begründen. Die gutachterliche Ablehnung der Indikationserweiterung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur entfalte keine Sperrwirkung, weil diese nicht auf einer aussagekräftigen Datenlage beruhe und seither neue Hinweise auf eine positive Wirkung des Arzneimittels erlangt worden seien.

Hinweise:
§ 27 Abs. 1 SGB V (Krankenbehandlung)
Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfaßt ….. 3. Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln sowie mit digitalen Gesundheitsanwendungen, ….
§ 2 Abs 1 a SGB V:
Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die Krankenkasse erteilt für Leistungen nach Satz 1 vor Beginn der Behandlung eine Kostenübernahmeerklärung, wenn Versicherte oder behandelnde Leistungserbringer dies beantragen. Mit der Kostenübernahmeerklärung wird die Abrechnungsmöglichkeit der Leistung nach Satz 1 festgestellt.

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