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„Mit der strukturellen Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde ist Deutschland einen großen Schritt in Richtung eines angemessenen Mindestlohnniveaus im Sinne der Europäischen Mindestlohnrichtlinie gegangen“ – es bleibt aber Luft nach oben, wenn eine existenzsichernde Untergrenze erreicht und gehalten werden soll. Zu diesem Ergebnis kommen Arbeitsmarktexperten der Hans-Böckler-Stiftung in einer neuen Stellungnahme für die Mindestlohnkommission. Die berät in den kommenden Monaten über die nächste Anpassung des Mindestlohns zum 1. Januar 2024. Der jüngste Fortschritt sei kein Grund, sich zurückzulehnen und mit dem Status quo zufriedenzugeben, analysieren die Forschenden. Nach der jüngsten außerordentlichen Erhöhung gelte es, den Mindestlohn dauerhaft auf ein angemessenes Niveau zu bringen. Außerdem dürfe es angesichts der aktuell hohen Preissteigerungen keine Verschnaufpause geben. Und schließlich sind trotz des jüngsten Anstiegs noch nicht die in der EU-Mindestlohnrichtlinie genannten Referenzwerte erreicht: 50 Prozent des durchschnittlichen oder 60 Prozent des mittleren Lohns, des Medianlohns, würden aktuell 13,16 Euro beziehungsweise 13,53 Euro entsprechen, haben die Fachleute des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) berechnet.
Die Arbeitsmarktexperten fassen in ihrer Analyse die bisherigen Erfahrungen mit Einführung und Erhöhungen der gesetzlichen Lohnuntergrenze zusammen. Dabei erinnern sie auch daran, dass „die von vielen befürchteten negativen Konsequenzen für den Arbeitsmarkt ausgeblieben“ sind, nachdem der Mindestlohn 2015 eingeführt worden war. In den Folgejahren beschloss die für Anpassungen zuständige Mindestlohnkommission mäßige Erhöhungen, die zeitverzögert die Entwicklung der Tariflöhne nachzeichneten. So stieg der gesetzliche Mindestlohn von ursprünglich 8,50 Euro bis 2021 auf 9,60 Euro. Seitdem hat er mit zwei Zwischenstufen um 25 Prozent zugelegt und beträgt derzeit 12 Euro. Damit kommt er zum ersten Mal „in die Nähe der Niedriglohnschwelle“, die das Statistische Bundesamt für 2022 mit 12,50 Euro angibt. Die Anhebung verbesserte für rund sechs Millionen Beschäftigte die Bezahlung – das waren deutlich mehr als bei der Einführung 2015.
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Mindestlohnbereich haben durch die jüngste Erhöhung im Schnitt 100 Euro mehr im Monat, Minijobberinnen und Minijobber 50 Euro. Die Löhne und Gehälter in den unteren Zehnteln der Verteilung stiegen überdurchschnittlich. Der Mindestlohn habe statistischen Erhebungen zufolge „sehr ausgeprägte Effekte“, was die Lohnentwicklung betrifft, schreiben die Experten Prof. Dr. Alexander Herzog-Stein, Dr. Malte Lübker, Dr. Toralf Pusch, Prof. Dr. Thorsten Schulten und Dr. Andrew Watt.
Dabei machte die gesetzliche Untergrenze Tarifverhandlungen in Niedriglohnbranchen keineswegs überflüssig, sondern sie habe im Gegenteil den zumeist eher schwach organisierten Tarifvertragsparteien in den Niedriglohnbranchen geholfen, „eine notwendige Aufwertung des Tariflohnniveaus gegenüber anderen Branchen voranzutreiben“. Zudem wirke der Mindestlohn gesamtwirtschaftlich stabilisierend, was etwa die Überwindung der Coronakrise erleichtert habe.
Im Oktober 2022 ist eine neue EU-Richtlinie verabschiedet worden, um „die Angemessenheit der Mindestlöhne der Arbeitnehmer“ zu verbessern. Damit werden – auch für Deutschland verbindliche – anspruchsvollere Ziele formuliert. Während bei der Einführung 2015 hierzulande die recht niedrige Pfändungsfreigrenze als Orientierungspunkt galt, kommen nun weitere Kriterien ins Spiel: Der Mindestlohn soll Armut trotz Arbeit möglichst verhindern, den sozialen Zusammenhalt stärken, soziale Aufstiege erleichtern und das geschlechtsspezifische Lohngefälle verringern. Zu beachten sind laut der Richtlinie bei der Festlegung:
Explizit werden zudem die „auf internationaler Ebene üblichen Referenzwerte“ von 50 Prozent des Durchschnitts- oder 60 Prozent des Medianlohns genannt.
Als besonders dringlich erscheint den Fachleuten von WSI und IMK aktuell die Berücksichtigung der Inflation – die Beschäftigte mit niedrigem Entgelt häufig noch härter trifft als Bessergestellte, wie der monatliche „Inflationsmonitor“ des IMK zeigt. Eine entsprechende Anpassung des Mindestlohns sollte mindestens einmal im Jahr erfolgen. Und ein weiterer Aspekt könnte eine Rolle spielen: nämlich inwieweit der Mindestlohn reicht, um Altersarmut zu vermeiden. Derzeit wären beispielsweise 13,37 Euro nötig, damit eine Person, die 40 Jahre 38,5 Stunden in der Woche zum Mindestlohn arbeitet, einen Rentenanspruch oberhalb der Grundsicherung erwirbt.
In jedem Fall ist es laut WSI und IMK in Zukunft keine Option mehr, den Mindestlohn wie in der Vergangenheit einfach mit gewissem Zeitverzug den Tariflöhnen folgen zu lassen. Vielmehr sei der Auftrag der Mindestlohnkommission, die sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Sozialpartner sowie wissenschaftlichen Beratenden zusammensetzt, gesetzlich zu präzisieren. Dazu sollten die in der EU-Richtlinie genannten Kriterien ins deutsche Mindestlohngesetz übernommen werden.
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung
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